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Rückblick auf die Verbannung

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DIE FLUCHT NACH TARSCHISCH. Einautobiographischer Bericht. Von M. V. Ben- G a v r i ė I. Hoffmann-und-Campe-Verlag, H amburg 1963. 401 Seiten. Preis 21 DM.

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DIE FLUCHT NACH TARSCHISCH. Einautobiographischer Bericht. Von M. V. Ben- G a v r i ė I. Hoffmann-und-Campe-Verlag, H amburg 1963. 401 Seiten. Preis 21 DM.

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Tarschisch — das ist nach den erdkundlichen Begriffen des semitischen Altertums der ferne Westen. Tarschisch, das ist im besonderen die ferne Hafenstadt, nach der Jonas fliehen wollte, als ihn Gott nach Ninive gesandt hatte. Auf dem Umweg über einen Seesturm aber brachte ihn der Herr dennoch nach Ninive, wo ihm die Botschaft auf- getragen war. „Die Flucht nach Tarschisch“ ist also der autobiographische Bericht über den Umweg eines altösterreichischen Juden, der sozialistischer Revolutionär usw. wird, bevor er nach dem Lande

Israel heimfindet. Dieses Lebensbild aus den Provinzen und der Hauptstadt der Monarchie wird in einer erfreulich natürlichen, reinlichen Sprache mit anschaulicher Plastik erzählt. So manche Schilderung liest man mit Vergnügen, und es kann uns nicht stören, daß dem Autor aus seiner sozialistischen Jugendzeit eine erstaunlich feindliche Einstellung gegen alles Kaiserlich-österreichische und aus seiner jüdischbourgeoisen Kindheit ein naives Uberlegenheitsgefühl gegen alles Slawische verblieben ist (slawische Worte kann man sich natürlich nicht korrekt merken). An seinem Humor kann man herzliche Freude haben. Ein empfehlenswertes Buch also — dem zu empfehlen, der sich mit dem Judentum befreunden möchte? Nicht so ganz.

Aus dem Werk der Freud-Schule, aus den Romanen sowohl jüdischer als antisemitischer Autoren ist ohnedies der verbreitete Eindruck entstanden, die jüdisch-bourgeoise Intelligenz sei geneigt, über die Pubertät und deren Folgen mit Details, und mit Komplexen, zu reden, wie sie uns undifferenzierten Gojim nicht so leicht über die Lippen kommen. Es ist nun zu sagen, daß die in diesem autobiographi schen Bericht immer wieder besprochenen Pudenda utriusque generis alles andere denn freundschaftliches Verständnis erregen, eher aber eine Stimmung, die mit: „Muß denn das wirklich sein?“, noch im mildesten ausgedrückt ist. Allenfalls ist man bereit, den Autor für die Aufrichtigkeit zu achten, mit der er einen unliebenswürdigen Zug nicht verschweigen zu sollen geglaubt hat; immerhin, unter den gegebenen Umständen hätte er wohl besser ge tan, manches anders oder gar nicht zu schildern.

Es wäre noch eine Frage zu stellen. In diesem Roman ist wiederholt in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg die Rede von „Sudeten“. Nun ist das Alter dieser Bezeichnung umstritten. Wir wollen auf die Frage hier nicht eingehen, da sie dem Thema des Buches mitnichten verwandt ist. Ein glaubwürdiges Zeugnis von Zeitgenossen wäre aber hoch erwünscht.

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