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Nestroy original wienerisch

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Vor einigen Monaten spielte die West-Berliner Volksbühne Nestroys „Mädel aus der Vorstadt“. Sie hatte sich einen Bühnenbildner aus Wien verpflichtet (Gandolf Buschbeck), ein Wiener Ensemble (Hugo Lindinger, Gusti Wolf, Franz Messner, Karl Augustin, Johanna Mertinz und andere) mit einem Regisseur aus Wien, der zugleich sein eigener Hauptdarsteller war (Heinrich Schweiger). Es wurde ein erfolgreicher Abend, vor allem für den Darsteller Schweiger als Schnoferl und — für Nestroy.

Das gleiche Erfolgsrezept wandte das Schillertheater zum Abschluß der Spielzeit an: Nestroy original wienerisch. Natürlich verzichtet man bei dieser Methode darauf, etwa einen „Berliner“ Nestroy zu entwickeln — was immer das sein oder werden könnte; ein Nestroy, losgelöst von der Tradition, darstellerisch (nicht von der Sprache her!) neu! Aber solche theoretischen Überlegungen versinken vor dem vielbejubelten „Lumpazivagabundus“, den das Schillertheater mit Wiener Hilfe auf die Bühne brachte. Dabei braucht Barlog nur für die Spitzenkräfte südliche Anleihen: Jürgen Rose als Bühnenbildner, Eduiin Zbonek als Regisseur, Helmut Qualtinger als Knieriem; die übrigen Rollen kann er durchaus treffend aus seinem Ensemble besetzen. Nennen wir nur den körperlich hübsch zu Qualtinger kontrastierenden schlaksigen Stefan Wigger als Zwirn und den schmucken Walter Riss als Leim.

Bei allem Übermut und aller Drollerei hatten sie den Ton der leichten, resignierenden Melancholie, der über diesem Stück schwebt; und als der Bühnenpatriarch Robert Müller in der Rolle des Feenkönigs Stellaris von der Bosheit der Menschen sprach, da wurden Dimensionen aufgerissen, die erschauernd an die Gegenwart denken ließen.

Das Publikum folgte gespannt; beinah genüßlerisch schmeckte es eine Wortverdrehung nach der anderen ab: mit einer gewissen Verzögerung hier in Berlin, mit einem merklichen Aufwand an geistiger Arbeit; aber dann geht, zumindest nach der Pause, fast Replik für Replik eine Bewegung durch die Menge, Bewunderung, Gelächter: was er da wieder gesagt hat — und: wir haben trotz der Verklausulierung verstanden! Sprachliche Ferne löst vergnüglichen Denksport aus, idiomatisch Fremdes reizt zur Entdeckung und Entschleierung: wie Pralines wickelt man Nestroys Wahrheiten aus Goldpapier, wobei man mit Vergnügen auch durchaus Bitteres enthüllt!

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