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Shakespeare: Neuzeitlicher Äschylos

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Triumph der Gnade. Von Richard Flaller. Kurt Desch, München. 175 Seiten. Preis 9.80 DM

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Triumph der Gnade. Von Richard Flaller. Kurt Desch, München. 175 Seiten. Preis 9.80 DM

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Nachdem Richard Flatters Shakespeare-Ueber- Setzungen einen wahren Siegeszug nicht nur durch die Theater Wiens, sondern der deutschen Länder überhaupt gefeiert haben, erweist sich sein jetziges Shakespeare-Buch wohl nun, ohne Uebertreibung, als bisheriger Gipfel der internationalen Shakespeare- Forschung. Flatters große Entdeckung ist das zentral Schauspielerische in Shakespeare — das aktuell Schauspielerische im Gegensatz zur „reinen Dichtung“ der Klassik wie Romantik. Wie für diese Dramen-„Dichtung“ das Schauspielerische nur ein Nachfolgendes zum „Lese-Drama" ist, so lebt bei Shakespeare das Drama durch und durch im Schauspielerischen. Das geht entscheidend bis in die Versform Flauer weist praktisch wie theoretisch nach, wie Shakespeare mit voller Absicht nicht nur Prosa und Vers in seinen Dramen mischt, sondern auch eine glatte Versform unbedenklich zerbricht oder fragmentarisch läßt, wenn es die schauspielerische Wirkung so fordert. Die Auferstehung dieses primär und grundsätzlich Schauspielerischen — das ist das Einmalige in Flatters Shakespeare-Ueber- tragungen. Der theoretische Nachweis dafür, daß erst so die letzten Sinn-Intentionen der Dramen heraustreten — das ist die Leistung seiner vorliegenden Shakespeare-Interpretation Wie im Text der Dramen der Bruch und Abbruch im Vers das leidenschaftlich Abgründige und Uebergründige des Dramas frei herausspringen läßt, so weist der Theoretiker Flauer, vor allem in seinem wahrhaft genialen Schlußkapitel, diese iahe Peripetie zwischen finsterem Abgrund und lichter Höhe als den Inbegriff des gesamten Werkes Shakespeares nach: „Triumphierende Tragödie.“ Er weist damit nach, wie Shakespeare Mythos und Mysterium der Antike zu seiner Form hat, nämlich „Tod und Auferstehung (wie es der Altmeister der klassischen Philologie, Walter F. Otto, in seinem „Sein und Gestalt“ aufgedeckt hat). Shakespeare erscheint als einziger neuzeitlicher Aeschylos.

Damit fällt von selbst, was bisher galt. Es fällt alle Theorie von einer „tragischen Schuld“ in der Tragödie. Es fällt die romantische „Sprach-Melodie", in. die Schlegel (und erst recht seine unfähigen Verbesserer und Nachfolger) den Shakespeare von Mythos und Mysterium „ausgeglättet" haben. Es fallen die Konstruktionen der „englischen Literaturprofessoren". Es fällt vor allem jeder Versuch, hinter Shakespeare das Anonym irgendeines „großen Zeitgenossen" zu suchen (angefangen von einem Anonym Bacons). Denn die Dramen Shakespeares, wie sie ihre wirkliche Sprache und Form haben, kann nur ein großer Schauspieler geschrieben haben, der aus dem Schauspielerischen heraus alle „glatte Dichtung" zerbricht, daß allein das Mysterium von „Tod und Auferstehung" Maß und Grenze von allem sei.

Das ist das Große, das uns Flatter, als praktischer Uebersetzer wie als scharfsichtiger Theoretiker, geschenkt hat: Shakespeare nicht als humaner Dramatiker (wie Goethe, Schiller, Grillparzer, Hebbel, Ibsen, Hauptmann usw.), sondern als Vorerfüllung dessen, was Kleist und Grabbe ahnten: Schöpfer des Mysteriums von „Tod und Auferstehung" in jener Neuzeit, die (in Teresa a Jesu, Johannes vom Kreuz, Luther, Böhme) in diesem Mysterium eigentlichst aufstand, um heute im selben Mysterium unterzugehen.

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