Von den Ratten und den Menschen

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In drei Stunden erzählt Mondtags Gesamtkunstwerk von den komplexen Verstrickungen rund um die Entführung der Helena, dem Trojanischen Krieg und der Geburt der Demokratie.

Was sehen die Götter, wenn sie auf die Welt blicken? Einen Haufen Ratten, die sich gegenseitig das Leben schwer machen. Mit Aischylos' "Die Orestie" war erstmals eine Inszenierung des Berliner Regisseurs Ersan Mondtag in Wien zu sehen. Den Festwochen gelang mit dem Gastspiel des Hamburger Thalia Theaters ein exzellenter Beginn. In drei Stunden erzählt das Gesamtkunstwerk von den komplexen Verstrickungen rund um die Entführung der Helena, dem daraus resultierenden Trojanischen Krieg und der Geburt der Demokratie. Der präzise Chor, das hervorragende Schauspiel-Ensemble sowie starke Bilder sorgen für einen stringenten Abend.

Zu Beginn stehen die Figuren auf einer erhabenen Drehbühne. Im Halbrund ist ein Palast etabliert. Vorhänge sind mit antiken Statuen bebildert, Mondtag zitiert den Theaterraum der griechischen Tragödie. Die Maske der Figuren - spitze Nasen, lange Barthaare und rote Augen -sowie weiße Felljacken samt langem Schwanz machen schnell klar: Hier handelt es sich um riesige Ratten, die sich ihrem Charakter entsprechend der Situation angepasst haben. Im Chor intonieren sie den mehr als zehn Jahre andauernden Krieg und beklagen Iphigenie, die von ihrem Vater Agamemnon geopfert wurde. Iphigenie tritt auf, sie trägt unter ihrem Felljäckchen rosarote Wäsche und Leggings: ein tollpatschiges Rattenmädchen. Agamemnon brachte das Opfer, um die Götter zu besänftigen, zog mit dieser Entscheidung aber den Hass seiner Frau Klytaimnestra auf sich. Als er nun als Sieger nach Argos zurückkehrt, verlockt sie ihn mittels Schmeicheleien, den Palast auf einem roten Teppich zu betreten. Agamemnon zögert zunächst, er weiß, dass er sich der Hybris schuldig machen würde, doch schließlich siegt seine Eitelkeit. Die Kriegsbeute bringt er in einem Korb mit: ein schreiendes Ratten-Baby, dessen Weissagungen schwer verständlich sind. Es handelt sich um die Seherin Kassandra. Sie quäkt aus ihrem Steckkissen und prophezeit eine düstere Zukunft. Ihr tragisches Schicksal aber lautet, dass sie kein Gehör findet.

In blickdichten Strümpfen, schwarz-weißem Fell und glänzender Langhaarperücke ist Marie Löcker als schöne, kluge Klytaimnestra beeindruckend. Nachdem sie für Agamemnon ein Bad vorbereitet hat, erschlägt sie ihn. Die Vorhänge fallen vom Gerüst, eine moderne, spiralförmige Rotunde kommt zum Vorschein. Über einem der Geländer hängt der blutige, nackte Agamemnon, die herzzerreißenden Schreie von Kassandra sind weiter zu hören. Erst nachdem das Bündel aus dem obersten Stock geworfen wird, kehrt für einen Moment Ruhe ein.

Kreislauf aus Hass, Mord und Gewalt

Immer wieder heißt es in der Inszenierung "Mord wird mit Mord vergolten". Krieg und Gewalt nehmen kein Ende, sie drehen sich immer weiter, wie die Rotunde, die nun die Fassade billiger Plattenbauten präsentiert. Auf kleinen, bunten Balkonen mit verwelkten Pelargonien stehen die Bürger von Argos und winken dem neuen Herrscherpaar zu: Klytaimnestra und Aigisth.

Die mit Gewalt erreichte Macht währt aber nur kurz und die blutrote Krone wechselt ab nun schnell ihre Träger. Orest kehrt aus dem Exil zurück, um den toten Vater zu betrauern. Sebastian Zimmler trägt als Orest menschliche Züge. Zusammen mit Elektra, von Björn Meyer als dicke, verwahrloste Ratte dargestellt, plant er Rache und tötet Aigisth und die Mutter. Ein heftiges Gewitter bricht herein, Leichen fallen vom Himmel, die Rachegöttinnen sind am Plan.

Im ewigen Kreislauf aus Hass, Mord und Gewalt bewegen sich die Ratten, Spielzeug der Götter. Orest sucht Zuflucht bei Pallas Athene. Sie -und auch alle weiteren Protagonisten -sind nun nicht mehr im Tierfell zu sehen. Sie tragen schwarze Anzüge und elegante Kleider. Aus den wilden Ratten wurden domestizierte Haustiere. Am Ende des von Pallas Athene eingeleiteten Gerichtsverfahrens gibt die Göttin ihre Stimme für den Freispruch Orestes ab. Die Blutrache soll ihr Ende nehmen, die Demokratie ist geboren. Aus instinktgesteuerten Ratten, einer grausamen göttlichen Ordnung ausgeliefert, wird der Mensch mit freiem Willen geboren. Ersan Mondtag gelingt ein ästhetisch außergewöhnliches Anti-Kriegsdrama, das die Entwicklung von scheinbar fremdbestimmten Wesen zu handlungsfähigen Menschen zeigt.

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