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ESEL GESUCHT

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Ein guter, schöner Brauch lebt landauf, landab wieder auf: die Sitte, einst weit verbreitet, Passionsspiele zu veranstalten, wobei in bäuerlichen Gemeinden alles mitwirkt, was eben mit- wirken kann Wobei die Bevölkerung oft keine Opfer scheut, soweit es an ihr liegt. Welche Hindernisse sich hier jedoch dem besten Willen stellen können, zeigt das bisher vergebliche Bemühen der Veranstalter der Passionsspiele in der kleinen Stadt Neumarkt in der Oberpfalz, gemäß einem alten vorliegenden Text, für die Palmsonntagsszene einen nicht unwichtigen Mitarbeiter zu finden: einen Esel. Einen stillen, ruhigen Esel, einen Palmesel, der nicht schreit, keine Kapricen macht, sondern eben still und geduldig seines Amtes ' waltet. Nun sind in Bayern — Zeichen der Zeit — die Esel fast ausgestorben Das Anerbieten eines Zirkus mußte abgelehnt werden, da dieses Grautier die Berufsgewohnheit nicht lassen kann, sich beim Laut- werden von Musik auf die Hinterhufe zu stellen und zu tanzen. — Nun, es wird sich wohl, so steht zu hoffen, noch in letzter Minute, ein Esel finden: ein stiller, lieber Esel, so gutmütig, wie ihn die alten Maler malten, ein „Bruder Esel", wie ihn St. Franziskus liebte und segnete und wie er, der Esel, den schwerkranken, todmüden Sänger von Gottes Herrlichkeit über aller Kreatur durch die umbrischen Lande trug.

Der fehlende Esel in der Oberpfalz, er wirft ungewollt ein Schlaglicht auf unsere Zeit: wie viele Tiere sterben da aus, gehen nicht mehr mit dem Menschen über die Straßen unserer Schmerzen und Freuden. Schwindet mit den Tieren nicht auch eine gewisse Menschlichkeit? Im deutschen Mittelalter gehörte in vielen Gegenden das freudige Schreien des Esels, der mitten in die Kirche geführt wurde, zum Osterjubel am hohen Osterfeiertag. Das Brüllen der Motoren ist kein geeigneter Ersatz für das frohe Rufen der Kreatur ...

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