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Der Bruder Esel oder: Hast Gott andere Maße?

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Das ist eine gute Geschichte. Das ist eine gesunde Geschichte. Das ist eine Geschichte, die ich sehr liebe, obwohl sie mir immer Gewissensbisse macht.

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Das ist eine gute Geschichte. Das ist eine gesunde Geschichte. Das ist eine Geschichte, die ich sehr liebe, obwohl sie mir immer Gewissensbisse macht.

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Seien Sie mir bitte nicht böse, wenn ich Ihnen nun eine Geschichte aus der Heiligen Schrift des Alten Testamentes erzähle, die wie ein Märchen, vielleicht wie eine Legende sich anhören mag. Aber sie steht (und da können Sie nachlesen) im IV. Buche des Moses, zu Anfang des 22. Kapitels des Buches Numeri. Die biblische Geschichte War also, kurz nacherzählt, die folgende: Der Moabiterkönig Balak, Sohn des Sephör, bekam Angst vor den eindringenden Israeliten. Er berief den Propheten Balaam, um einen kräftigen Fluch durch diesen gegen die Israeliten aussprechen zu lassen. Um den Effekt vorauszunebmen: wenn der Prophet gegen Israel sprechen wollte, kamen immer Lob Javes und Sieg der Israeliten aus seinem Munde — denn ein Prophet kann ja nicht anders und anderes sprechen als der Gott ihm zu sprechen eingibt. Nun war einmal Balaam unterwegs, um über das Lager der israelitischen Feinde einen Fluch zu sagen — mehr im Namen des Königs von Moab. des Balak, als im Namen des lebendigen Gottes. Da geschah folgendes: Balaam ritt wie gewöhnlich auf seinem Esel.

Plötzlich bog der Esel vom Wege ab, lief über die Felder und gewann nach vielen Schlägen erst viel weiter vom abgebogenen Wege entfernt den richtigen Weg wieder. Im Weiterreiten drückte sich der Esel plötzlich in einer engen Stelle gegen eine Lehmmauer. Balaams Bein wurde arg gequetscht.

Wieder weiter des Weges blieb Balaams Esel plötzlich stehen, fiel auf seine Knie nieder und war nicht mehr zu bewegen, weiterzugehen. Esel sind störrisch, das weiß jeder, und auch Balaam wußte dies. Da gab der Herr dem Esel Balaams plötzlich eine menschliche Stimme und der Esel beklagte sich: „Was habe ich dir getan? Warum schlägst du mich nun schon zum dritten Male?" Balaam antwortete: „Weil du mich ärgerst und Späße machst; hätte ich ein Schwert, so würde ich dich töten.“

Da sprach der Esel: „Bin ich nicht dein Tier, auf dem du zu sitzen gewohnt warst bis heute? Sag, habe ich jemals solches bisher getan?“ Da mußte der Prophet Balaam sagen: „Nein — das ist neu!" Da öffnete der Herr — so heißt es wörtlich in der Heiligen Schrift — dem Balaam die Augen und der sah einen Engel mitten auf dem Wege stehen, der ein gezücktes Schwert in Händen hielt. Balaam fiel zu Boden und grüßte den Engel. Da sprach der Engel: „Warum schlägst du schon dreimal deinen Esel? Ich kam, um dir zu widerstehen, weil du auf falschen Wegen gehst. Und wenn dein Esel nicht den Weg verlassen hätte, um dem Raum zu geben, der ihm im Wege stand, hätte ich dich getötet und den Esel leben lassen/' Da sprach Balaam: „Ich habe gefehlt, weil ich nicht wußte, daß du gegen mich standest; jetzt, wenn es dir mißfällt, daß ich weitergehe, werde ich zurückkehren.“ (Num. 22, 28-34.)

Das ist eine gute Geschichte. Das ist eine gesunde Geschichte. Das ist eine Geschichte, die ich sehr liebe, obwohl sie mir immer Gewissensbisse macht.

Zunächst die Esel. Esel sind gute, störrische, törichte, nützliche Tiere. Esel haben, wie die Menschen, ihre Vorteile und ihre Nachteile. Esel sind besser als die Menschen, denn sie sind arbeitsam und geduldig und können ungeheuer viel aushalten. Esel sind auch schlechter al« die Menschen, denn sie haben einen undurchsichtigen Widerwillen gegen manches, was uns Menschen gar nicht widrig zu sein scheint. Esel haben ihre eigene Auffassung von Zuviel und Zuwenig — eine Auffassung, die sich leider mit unserer menschlichen Annahme von Für und Wider nicht deckt. Darum werden Esel geschlagen. Sie werden sehr viel und sehr hart geschlagen. Aber — es nützt niemals, einen Esel zu schlagen, denn der Esel ist dann der Mensch und nicht der Esel, wenn der Mensch einen Esel schlägt. Denn der Dumme ist — wie man zu sagen pflegt — der Esel; der Dumme ist aber der Mensch, wenn er einen Esel schlägt. Ergo! — Esel liebe ich auch schon deshalb, weil sie im Stalle zu Bethlehem gewesen sein sollen, als der Herr in der Armut zur Erde kam. Gott bevorzugte die nach Menschenmaß dümmste Kreatur, um seinen Sohn auf Erden zu begrüßen. Sehr komisch!

Hat Gott vielleicht andere Maße? Ist vor Ihm Dummheit und Klugheit so ganz anders als bei uns? Ist Sein Maß und das unsrige, ist Sein Urteil und das unsrige so sehr voneinander verschieden? Und da Gott sich auf die Seite der Engel stellt, habe ich nicht viel Vertrauen auf unser Menschenmaß und Menschenurteil.

Und dann liebe ich die Esel noch aus einem andren biblischen Grunde: als unser Herr in Jerusalem feierlich einzog, als man Ihm derart die Ehre eines Rabbi, eines Lehrmeisters im Volke und durch das Volk, zuerkannte, da wollte Er auf dem Füllen einer Eselin sitzen. Das hat Er selbst und eigens gesagt und so an- geördnet, daß es geschehe. Dafür zitierte der Herr den Propheten Isaias und den Propheten Zacharias; Siehe, es kommt Dein König, der Milde, sitzend auf einem Esel! Der Esel war des sanften Herrn Triumphtier. Der Esel war des gütigen Herrn eigener lebendiger Thron zur Erhöhung Seiner irdischen Menschlichkeit. Kein Streitroß, kein Prunkgespann feuriger Rosse, sondern — ein Esel. Und die Jünger legten auf das Tier und unter seine Hufe ihre Gewänder zum Zeichen, daß dieser es ist, worauf sie hofften; Saß dieser es ist, der auf dem

Esel sitzt, auf den sie ihren hoffenden Glauben gesetzt hatten. Hosianna dem Sohne, Davids — so sangen sie dem, der auf dem triumphgebenden Esel saß. Der Esel ist kein unwichtiges Tier. Der Esel ist ein gottbevorzugtes Tier. Der Esel ist das Tier, das w i r dumm heißen, d s aber der Herr auserwählt hat; das Tier, das wir störrisch heißen, das aber Gott wegen seiner Sanftmut liebte. Wie weit entfernt sind doch die Urteile Gottes von denen der Menschen. Oder liegt dies an dem Gebrauch, den wir von den Dingen der Erde, und also auch von den Eseln, machen!? Wer den Esel für sanftmütig und geduldig hält, dem wird der Esel als ein sanftmütig-demütiges Geschöpf folgen; wer den Esel für störrisch hält, scheint selbst ein störrisches Erdenwesen zu sein, dem ein Esel auch nur mit störrischem Wesen wird antworten können.

Ich liebe die Esel. Alle Esel liebe ich. Wegen der Klugheit von Balaams Esel, der schneller als der Prophet Gottes Engel erkannt hatte; wegen des Esels von Bethlehem, der seinen neugeborenen Gott-Menschen erkannt hatte; wegen des Esels vom Einzug des Herrn in Jerusalem! Der seinen Herrn trug, als dieser als Meister anerkannt werden wollte und als Erlöser der Welt nachher untergehen wollte in Seinem entsetzlichen Tode am Kreuze. Ich liebe die Esel.

Und viel später, lange nach des Esels Auserwählung für Balaam, lange darnach, als unser Herr den Esel von Bethlehem und den von Jerusalem bevorzugte, kam einer, der die Tiere liebte, wie nie zuvor ein Mensch und Christ die Tiere liebte: lange Zeit spater kam der heilige

Franz von Assisi. Der sah in allen Geschöpfen Gottes ein Lob des Schöpfers. Der sah in allen Kreaturen ein neues Lob- und Danklied an den himmlischen Vater. Und dieser heilige Franz von Assisi sprach öfter vom „Bruder Esel“. Damit meinte er seinen eigenen Leib, den menschlichen Körper. Der Leib des Menschen ist ein Stück bevorzugter materieller Schöpfung. Der Leib ist Materie, aber eine bevorzugte Materie, weil sie mit dem menschlichen Geiste zur Einheit vereint ein Ganzes gibt; und weil der Leib, der Leib des Menschen, obwohl nur Materie und also verweslich, dennoch eine Verheißung des menschgewordenen Gottes erhielt: daß er auferweckt werde am Jüngsten Tage. Durch Gottes Menschwerdung in Christus wurde die Materie, wurde der Menschenleib geheiligt.

Durch des Gottmenschen Worte der Verheißung hat unser Leib die Hoffnung, aufzuerstehen aus Tod und Hölle und ewiger Zerfallnis und ewiger Verfäulnis. Diesen Leib mit allen seinen göttlichen Verheißungen nannte nun der heilige Franz von Assisi: Bruder Esel. Das war gar nicht despektierlich. Das war gar nicht abträglich für den Leib, wenn er so genannt wurde. Vielmehr war dies ein Adelsprädikat des Menschenkörpers, wenn Sankt Franz von Assisi den Leib „Bruder Esel“ nannte. — „Esel“ wäre schon viel, wäre fast schon zuviel gewesen. Denn Esel sind klüger als die Propheten; Esel sind barmherziger als die Herbergsväter zu Bethlehem; Esel sind triumphaler durch ihre Sanftmut als die Schlachtrosse der Großen dieser Erde. Esel — gesagt zum Menschenleib — heißt schon sehr viel: das bedeutet, daß unser Leib gar nicht geringe Fähigkeiten;' ni'cfii , wifii/e 'Aufgaben, riieh'f- gefifMge Aussichten hat. tlrfser Leib vermag viel und ist zu vielem, zu sehr Hohem, ist zu Ewigkeit und Triumph berufen.

Der heilige Franz von Assisi nannte aber seinen Körper „Bruder Esel“. Und damit hat der heilige Franz alles ausgesagt, was Balaam einst nicht verstand, als er auf seinen Esel losschlug; hat gesagt, was der Sinn der bethlehemitischen Esel war: Brüder des menschgewordenen Gottes zu sein, der das Haupt der Schöpfung und die Einheit des Alls — auch des Esels also — ist; Sankt Franz nannte den eigenen Leib „Bruder Esel“, weil durch diesen Esel der herrliche Herr in Seine ewige Stadt Jerusalem einziehen werde. Der Esel ist viel und ist groß. Der Esel ist bevorzugt und geliebt. Das ist auch des Menschen Leib, der „Bruder Esel“: geliebt von Gott und vorbestimmt zu Großem, zu Ewigem.

Der heilige Franz hat aber instinktsicher gesagt: Bruder Esel. Mein Bruder ist ein anderer, ein nächster, aber doch fremder Mensch. Mein Bruder ist nicht das gleiche wie ich selbst. Mein Bruder ist mir verwandt, gehört zu mir in Blut und Liebe, aber er ist doch eine andere Welt, und ich bin für ihn eine andere Welt. Und so ist es auch mit unserem Leibe: er gehört zu uns, zu jedem einzelnen; er gehört durch Blut und Liebe zu uns — aber der Leib ist nicht ganz und ist nicht eigentlich das eigene Ich. Der Leib gehört zu meinem Ich, ohne es ganz auszumachen und zu sein. Der Leib ist dem Geiste einwohnend, und der Geist dem Leibe — ohne daß wir uns deshalb ganz Geist oder ganz Leib nennen dürften. Der Leib ist der Bruder unseres Geistes — der Geist ist der Bruder unseres Leibes. Die beiden Brüder sind aber nicht zwei verschiedene Ganze; die beiden Brüder „Leib“ und „Geist“ auch nicht wie Zwillinge, davon jeder sein einmalig-unwiederholbares Leben hat. Leib und Geist sind zwei zueinander und ineinander zur Ganzheit geordnete Brüder, die zusammen ein einiges Leben machen.

Am ErIeben kann man dies erkennen: denn wenn einer krank ist, spürt, er-lebt er es, daß er einen Leib, einen Körper hat, der unterschieden und verschieden ist von seinem Geiste. Der Leib spielt sich in den Vordergrund, wenn jemand erkrankt — derweilen sind die Belange des Geistes nicht sehr gut und erlebnismäßig spürbar. Aber der Leib ist nicht das, was ich meine, wenn ich „Ich"

sage; aber auch der Geist ist nicht das, was ich meine, wenn ich „Ich“ sage. Das Ganze von Leib und Seele bin Ich: Ich bin zusammengesetzt und eins aus Bruder Leib und Schwester Seele. Das bin ich. Bruder Leib ist Bruder Esel — ich liebe die Esel, wie ich meinen Leib liebe, und weil ich den Herrn verstehe, der die Esel liebte. Schwester Seele ist Schwester Taube — flugbereit, fruchtbar und verspielt. Bruder Leib und Schwester Seele —

Bruder Esel und Schwester Taube: das sind wir; das ist jeder für sich; das ist jeder als einer Und als ganzer. Das ist der Mensch. Keinen darf man auslassen: nicht den gesegneten Bruder Esel, nicht die gesegnete Schwester Taube. Dieses Geschwisterpaar steckt in jedem von uns — das sind wir, jeder für sich: Esel und Taube — Leib und Seele — ein Ganzes. Gott segne die Esel! Gott möge lieben die Tauben. Gott möge sie alle segnen und lieben.

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