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Das Eselwunder

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Sie waren am selbe- Tag, fast zur selben Stunde geboren, in einem schönen, aber armen sizilianischen Dorf, das sich in halber Höhe zwischen dem Meer und jenem berühmten Vulkan, der sein Feuer unter dem Schnee hütet, an einen Bergabhang schmiegte.

Die Pfarre hieß Asinelli; ihre Kirche war der „Eselsmadonna“ geweiht, und man nannte sie im Land „Santa Maria del Asinello“.

Jedesmal, wenn in diesem Dorf ein Kind geboren wurde, bekam es als Patengeschenk einen Esel, freilich nur, wenn es ein Knabe war. Es gab also in diesem Dorf ebenso viele Esel wie Knaben. Den Mädchen schenkte niemand etwas; sie mußten sich damit begnügen, schön zu sein. Die Alten erzählten den Kindern, dieser Brauch stamme aus der Zeit Christi, und daß man jedem Neugeborenen Bruder „Langohr“ zum Spielkameraden schenke, geschähe zu Ehren jenes Esels von der Krippe. Am Tauftag führte man ihn vor die Kirche, wo ihn der Priester feierlich segnete. Jeder Pate bemühte sich, für sein Patenkind ein Eselchen aus den eben geborenen auszuwählen, damit es mit dem Kind heranwachse.

Zuerst war es sein Spielzeug, später wurde es sein Broterwerb. Es gab keinen anderen in dieser vulkanischen Umgebung, airl diesen rauhen und schneeigen Bergen, wo nichts wächst, was der Mensch essen kann. So war es auch mit Mario und seinem Esel Manoel. Beide erblickten in der ersten Morgenstunde des Weihnachtstages, kurz nach der Mitternachtsmette, das Licht der Welt. Aber Marios Mutter war bei der Geburt gestorben. Das Kind wurde mit der Milch der Eselin genährt.

Manoel war Marios Milchbruder.

Hoch sind die Berge — weiß ist der Schnee des Ätna, der Nachbar des Himmels —, glühend die Stadt Catania, die am Meer ruht“, heißt es in dem Lied der Eseltreiber.

„Hü, mein kleiner Esel, hü! — Such den Schnee dort, wo er ist — trag ihn dorthin, wo er nicht ist — in die dürstende Stadt, wo die Männer gierig nach Eis verlangen. — Geh, mein kleiner Traber! — Geh, mein kleiner Bischof. — Geh, mein weißes Veilchen. — Geh ...“

Mit diesen und noch weitaus verrückteren und zärtlicheren Zurufen ermutigen die Knaben ihre kleinen Esel auf dem schmalen Saumpfad, der sich an Abhängen und Abgründen vorbeiwindet.

Sie verlassen ihr Dorf bei Sonnenuntergang; man sieht sie in langer Karawane die glatte Bergwand emporsteigen. So kommen sie zu den Feldern des ewigen Schnees. Die weiße Ernte geschieht in der Nacht; sie ernten bei Sternenschein. Sie steigen bei Morgengrauen hinab, jeder mit seinem kleinen Lämpchen, wie eine Prozession Glühwürmchen. Beladen mit Körben voll Schnee kehren sie zurück; damit er nicht schmilzt, bedeckt man ihn mit Palmblättern aus den Gärten Catanias.

Schon vor Sonnenaufgang müssen die

Esel auf dem Markt der glühenden Stadt eintreffen. Alle Sorbetfabrikanten erwarten sie vor den Marktbuden. Der steinharte Schnee des Ätna dient zur Herstellung der „Cassate“, jenem gefrorenen Naschwerk in verschiedenen Farben, mit Pistazien-, Zitronen-, Himbeer-, Vanille- oder Bittermandelgeschmack, von dem alle Sizilianer schwärmen.

Und für die Genießer der Stadt, die faul auf den Terrassen der Kaffeehäuser sitzen und ihr Eis schlürfen, ist es ein besonderes Vergnügen, den mühevollen Aufstieg und den schwierigen Abstieg der kleinen Esel, denen sie ihre köstliche Erfrischung verdanken, mit den Augen oder gar mit dem Fernglas zu verfolgen.

Auf große Entfernung gesehen, wie diese Leute es tun, ähnelt ein Esel tatsächlich einer Bischofsmütze und mehr noch einem Veilchen, seiner spitzen Ohren wegen.

Es war sehr selten, daß sich ein junger Mann aus Asinelli unter die Städter mischte, von ihren Vergnügungen kostete und es einem anderen überließ, seinen Esel in das Dorf zurückzutreiben. Und gerade dies tat Mario. Er war damals neunzehn Jahre alt; schön an Gesicht und Gestalt. Schuld daran war ein Mädchen, etliche Jahre älter als er. Sie hieß Car-mela und kam mit ihrem Vater, einem Zirkusdirektor, aus Neapel.

Die große Vorstellung, die Dom Pom-peo Pomposo, Carmelas Vater, endgültig reich machen sollte, war mehrere Male verschoben worden.

In der ganzen Stadt hatte er verkünden lassen, daß er nach diesem letzten großen Schauspiel die Tiere seiner Menagerie verkaufen werde. Dann wolle er das Ende seiner Tage mit semer Tochter glücklich verbringen im Schloß seiner Väter oder eher seiner Träume.

Leider hatte sich die Giraffe ein Bein gebrochen, als sie das Schiff verließ, mit dem man sie hergebracht hatte; man hatte sie töten müssen. Die drei Affen und der gelehrte Hund waren an Verdauungsstörungen zugrunde gegangen; so sagte wenigstens Dom Pomposo und raufte sich das Haar. Böse Zungen aber behaupteten, daß sie an Hunger gestorben wären ...

Der Seehund war, als er in Catania ankam, an der Hitze umgekommen. Dem Zirkusdirektor war nichts als ein einziger Löwe geblieben. Um das Geld der Giraffenhaut, die er einem Gerber aus der Umgebung verkauft hatte, ließ er in der ganzen Stadt Plakate ankleben; auch verkündete man unter Trommelwirbel auf den öffentlichen Plätzen, daß „am besagten Tag, zur besagten Stunde im Zirkus Dom Pomposo ein Löwe einen Esel verschlingen werde“. Man riß sich um die Plätze. Die Karten verkauften sich wie mit Zauberkraft. Der Direktor mußte neue drucken lassen; denn jeder wollte dieses neronische Schauspiel sehen. Nur den Esel mußte man finden. In der Stadt gab es keinen, die Leute besaßen nur Pferde.

Wo einen Esel finden? Der Wirt des Gasthauses, in dem Dom Pomposo wohnte — der fürchtete, daß er um die Zeche geprellt werde, falls die Vorstellung schiefging, da er sehr wohl ahnte, daß sein Gast in Geldschwierigkeiten war —t zeigte ihm den Weg in das Dorf der Esel da oben in den Bergen. So kam.es, daß Carmelas Vater eines Morgens von der kleinen Benedetta, als sie gerade aus der Kirche kam, gesehen wurde. Er irrte in den geraden Straßen Asinellis herum, auf der Suche nach einem Esel, den er kaufen könne, aber alle Türen blieben ihm verschlossen. Am nächsten Morgen kehrte Mario nicht mit den Eseln heim, als sie vom Markt kamen. Er war in der Stadt geblieben. Manoel, der den Weg kannte, ging allein nach Hause; Benedetta machte ihm die Tür auf; sie vergewisserte sich, daß er Heu in der Krippe hatte; sie jjolte auch frisches Wasser für ihn; sie sagte ihm jene Liebkosungen, die ihm Mario zu sagen wußte; sie nannte ihn „Herr Bischof, meine Schwalbe, mein Veilchen, mein liebes Häschen“; sie küßte ihn auf die Ohren.

Wie zum Lohn schaute er sie mit seinen schönen Eselaugen an, in denen alle Weisheit, Süße, Trauer und Resignation der Welt wie in einem Spiegel für immer zu ruhen schienen. Augen, die unseren Herrn gesehen haben, dachte Benedetta.

Als sie das Strohlager gereinigt und die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging sie in die Kirche, um zu beten.

Benedetta liebte Mario. Sie war gerade fünfzehn Jahre alt und ein Mädchen, das alles verstehen konnte.

Sie fürchtete, daß Mario Leid widerfahren könne.

Nach der Kirche ging sie nach Haus, nahm ihren schwarzen Schal, hängte einen Blumenkorb an ihren Arm und stieg zur Stadt hinab, auf dem einzig vorhandenen Weg, der jener der Eseltreiber war; sie dachte wohl, daß sie Mario, wenn er an diesem Abend heimkäme, auf dem Weg treffen könne.

Sie begegnete ihm auch tatsächlich. Er war in Begleitung Carmelas.

Schnell zog sie ihren Schal über das Gesicht und ging an ihnen vorbei, ohne sie zu sehen, wie eine Blinde.

Als sie zur Stadt kam, war es schon spät. In allen Kaffeehäusern glänzten Lichter, die Nacht senkte sich herab, und auf den Terrassen sprachen alle von dem Fest, das am nächsten Morgen stattfinden sollte.

Dies war der Tag des großen Schauspiels. Ihr Eis genießend, fragten die Leute, ob wohl Dom Pomposo auch in dem Käfig sein, ob sich der Esel verteidigen und wie lange der Löwe brauchen werde, um den Esel zu verschlingen.

Benedetta packte das Entsetzen, als sie ihre Meinungen hörte. Ehe sie aus dem Haus gegangen war, hatte sie ihren Korb mit Bergblumensträußchen gefüllt, deren Frische die Leute in der Stadt lieben. Sie ging von Tisch zu Tisch und bot sie feil. Beim Verkauf wilder Schwertlilien und Gebirgszyklamen hörte sie von dem sprechen, was in der Stadt jeder wußte, wovon aber in ihrem Dorf keiner eine Ahnung hatte.

Als der Zirkusdirektor zu den Leuten im Gebirge gekommen war, um ihnen einen Esel abzukaufen, ahnte keiner seine Absicht. Die Bewohner Asinellis verkauften ihre Esel nicht, das war alles.

Sogleich wußte Benedetta, noch ehe es geschehen war, was geschehen werde. Den leeren Korb am Arm, schritt sie den rauhen Pfad, der in ihr Dorf führte, zurück.

Als sie dort anlangte, brannte hinter den Scheiben der Häuser, in denen sich der untergehende Mond spiegelte, kein einziges Licht mehr.

Leise öffnete sie die Tür, die in den Hof zu Marios Haus führte. Sie drückte die Klinke nieder; die Hütte war leer. Der Esel war nicht mehr bei seiner Krippe.

„Manoel... Mario ...“, rief sie, aber niemand antwortete ihr.

In der glühenden Stadt bewegte sich die Menge dem Zirkus zu, wo Pompeo Pomposo, auf einer mit rotem Samt drapierten Rednerbühne stehend, die Zuschauer empfing.

In dem Dorf, wo die Frische des ewigen Schnees sich in den Augen des Jesukindes spiegelt, zu Füßen der Statue der heiligen Eselsmadonna, betet die kleine Benedetta.

Vertraulich spricht sie mit der heiligen Jungfrau, wie mit einer anwesenden Person, die zuhören kann; sie beschwört sie, Marios Esel zu retten, ihn lebend aus den Klauen des Löwen entkommen zu lassen, der ihn gerade jetzt verschlingen wolle; sie bittet sie ganz bescheiden, dieses Wunder im Namen des Weihnachtsesels geschehen zu lassen, dessen Atem das Jesukind in der Krippe gewärmt, zum Andenken an den Esel, der sie bis nach Ägypten gebracht habe, und aus Liebe zu jener Eselin, die auf einem Teppich von Palmblättern in Jerusalem eingezogen war.

Indessen hörten unten in der Stadt die Zuschauer, die von den Spässen Dom Pomposos in Staunen versetzt wurden, schon die Räder des Käfigs knirschen, den die Zirkusdiener in die Arena schoben.

Mario wartete draußen. Er verwünschte Carmela, die ihn verachtete, weil er sich geweigert hatte, dem ßchauspiel beizuwohnen, nachdem er das Blut seines Bruders ausgeliefert hatte.

Er wartete nicht lange. Die Schreie der Menge warnten ihn. Als er eintrat, heulten, brüllten die Zuschauer, warfen ihre Hüte in die Luft, zerbrachen Stühle und schleuderten die.Trümmer auf den Käfig, in dem der Löwe zu Füßen des an allen Gliedern zitternden Esels sterbend seine Pfoten leckte.

Dom Pomposo, von dem alle um das Schauspiel betrogenen Zuschauer das Geld zurückverlangten, hatte sich mit der zornigen Carmela unteV Hohngelächter und Schlägen davongemacht.

Die Glocke von Santa Maria del Asinello läutete den Mittag ein, und die

Leute kamen aus dem Hochamt, denn es war ein Sonntag, als Mario, seinen Esel vor sich hertreibend, auf dem Dorfplatz eintraf.

Benedetta ging, ohne ihn anzusehen, vorbei. Aber Mario sank in die Knie, als er sie sah.

Die Kunde, daß es die heilige Jungfrau gewesen sei, die den Esel gerettet habe, um Mario von der Sünde zu bewahren, hatte sich im Dorf mit Windeseile verbreitet.

Der Pfarrer ließ die Glocken läuten. Sie läuteten so lange, daß Benedetta aus dem Haus ging, um zu sehen, was es gäbe. Sie begegnete Mario. Er nahm sie an der Hand. Nun glaubte sie an ihr Wunder.

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