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Angst vor dem Esel?

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Über die Furcht vor dem Kosmos, das Vermissen einer kosmischen Dimension und die Hirten der Kreatur.

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Über die Furcht vor dem Kosmos, das Vermissen einer kosmischen Dimension und die Hirten der Kreatur.

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Im sogenannten finsteren Mittelalter, das zumindest auf weiten Strecken heiterer, offener und freier war als manche spätere Zeiten, führte man am Palmsonntag die Palmesel, leibhaftige ausgewachsene Esel, in der Prozession mitten hinein in die Kirche und ließ sie da recht herzhaft ihr Schreien ertönen. Bis dies als „Mißbrauch” verboten wurde. Zum risus paschalis, zum Osterlachen, gehörte aber eben auch der Esel. So wie zum Pfingstfest die Tauben gehörten, die man, heute nur noch vereinzelt in Italien, von oben herab, durch ein Hochfenster oder eine Kuppellaterne, in die Kirche flattern ließ.

Heute haben wir keinen Esel mehr; und vor der Friedenstaube haben wir nicht minder Angst. Scheint sie nicht ganz in die Hände von gefährlichen Leuten gefallen zu sein, die mit ihr argen Schabernack treiben? Die Angst vor dem Esel und vor der Taube, die Angst vor der Kreatur, die doch bestimmt ist, mit dem Menschen mitzufeiern, da sie ja mitleidet und der Auferstehung und der Ankunft der „Neuen Welt” sich entgegensehnt, wie Paulus noch weiß, eben diese fast komische Angst vor dem Kosmos, hat eine ungeheure Bedeutung. Farbige Menschen, Asiaten und Afrikaner, schenken europäischen Christen kein Vertrauen, keinen Glauben, da sie dessen kosmische Dimension: das große Ja zum Leben, zur Schöpfung, vermissen.

Tragikomische Episode

Als eine kleine, tragikomische Episode am Rande unserer in Betriebsamkeit und innerer Industrialisierung sich auflösenden Zivilisation wird gerade noch vermerkt, daß diese und jene bayrische und tirolische Passionsspielgemeinde eben den einen Esel nicht finden kann, den sie für ihr Spiel braucht. Wir alle aber haben den Esel verloren und mit ihm die Taube: voll uneingestandener Angst, Lebensangst, Angst vor einem freien, liebesstarken Leben, ist das Leben zumal europäischer Christen in unserer „Neuzeit”. Wir erfahren nicht die eine große Solidarität mit allem Leben auf Erden. Eben deshalb haben wir so große Angst vor dem wachsenden Leben in Übersee, aber auch vor den Geburten, vor dem Austragen der empfangenen Kinder in unseren Ländern…

Der Christ ist heute kein Hirt des Lebens, der Kreatur, der Biosphäre auf dieser Erde: dies ist die Überzeugung der vielen Gegner und Andersfarbigen, die ihn umstehen.

Eine Lebensgemeinschaft ändert ihr Leben

Was das weltpolitisch und zukunftspolitisch zu bedeuten hat, dafür hier, kurz vor Palmsonntag, nur ein kleiner Hinweis. Am Montag nach dem Passionssonntag bringt die Kirche in der Messe eine merkwürdige Lesung zu Gehör: Der Prophet Jonas hat den Auftrag von Gott erhalten, der sehr großen Stadt Ninive, sie ist „drei Tagesreisen im Umfang”, das Strafgericht zu verkünden: „Noch vierzig Tage, dann wird Ninive zerstört werden.” Was tut daraufhin die sehr große, heidnische Stadt Ninive, unter Führung ihres energischen Königs? Sie ergeht sich nicht, wie später sooft die Christenheit, wenn sie den Weltuntergang befürchtete, in Völlerei und (oder je nach Geschmack) Verzweiflung, sondern tut Buße. Buße, alle „Menschen und Tiere, Rinder und Schafe sollen nichts genießen, weder auf die Weide gehen noch Wasser trinken” Die ganze Lebensgemeinschaft des großen Stadt-Staates ändert, in Buße, ihr Leben. „Und Gott sah ihre Werke und wie sie sich bekehrten von ihrem bösen Wandel.” Das Gericht findet nicht statt.

In den Jahren 1958 bis 1960 bereist auf zehn Vortragsreisen der bekannte französische Priester und Tiefenpsychologe Ignace Lepp Deutschland, auch Österreich, und berichtet darüber soeben in einem Buch „Meine Reisen zu den Deutschen” (Styria-Verlag).

Lepp, der Exkommunist und sehr offene Katholik, trifft hier auf Schritt und Tritt bei seinen christlichen Freunden einen Pessimismus, einen Nichtglauben an den guten Sinn der Zukunft; eine Furcht nicht zuletzt vor einer ungeheuren Katastrophe. Und bemerkt: „In Frankreich habe ich derartiges nur innerhalb gewisser exzentrischer Sekten, etwa der Adventisten, beobachten können.”

Die Urkraft des Lebens

Mit geringem Erfolg bemüht sich nun unser französischer Priester mit dem Hinweis auf Ninive und auf Jonas, Gottes Strafdrohung unseren mitteleuropäischen Christen klarzumachen, „daß auch die durch die Apokalypse verkündeten Katastrophen keine Zwangskatastrophen sind. Es hängt von uns Christen ab, diesen Prophezeiungen einen deterministischen oder einen pädagogischen Sinn zu geben. Nur wenn wir nicht alles Mögliche getan haben, um die Welt dem Geiste Christi gemäß umzugestalten, werden die Mächte des Bösen in der Menschengeschichte triumphieren.”

Wie aber, und hier stehen wir wieder am Anfang — am Beginn notwendiger Neubesinnung —, soll ein so starker Zukunftsglaube in einer Christenheit erweckt werden, die schon vor dem Esel, dem Palmesel in der Kirche, Angst hat? Angst vor seinem unbändigen, frohen Schreien, in dem die Urkraft des Lebens sich bekundet? Als Zeuge der Tierwelt, der Schöpfung, steht der Esel (und das Rind) bei dem neugeborenen Gottmenschen, an der Krippe. Christen werden erst wieder glaubwürdige Zeugen der Auferstehung werden, wenn sie die Angst vor dem Esel verlieren: Vor dem riesenhaften, laut schreienden Leben, dem Lebendigen, das rings um uns diese Welt erfüllt, drohend, „auf die Nerven gehend” — und wunderschön.

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