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Seltsamer Spazierritt

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Wenn ihr brav und ruhig seid und wenn ihr mir versprecht, daß ihr nachher auch wirklich gleich einschlaft, dann will ich euch heute wieder eine Geschichte aus dem Schatzkästlein des Rheinländischen Hausfreundes vorlesen. Also paßt auf. Ich lese euch den seltsamen Spazierritt vor. - Ein Mann reitet auf seinem Esel nach Haus und läßt seinen Buben zu Fuß nebenherlaufen. Kommt ein Wanderer und sagt: -“ „Die Sylvia spuckt immer!“ „Sylvia, hör auf! Kommt ein Wanderer und sagt: Das ist nicht recht, Vater, daß Ihr reitet und laßt Euren Sohn laufen; Ihr habt stärkere Glieder. - Da stieg der Vater vom Esel und ließ den Sohn reiten.“

„Jö, das ist aber eine wirklichkeitsnahe Geschichte!“

„Still! Da stieg also der Vater vom Esel und ließ den Sohn reiten. Kommt wieder ein Wandersmann und sagt: Das ist nicht recht, Bursche, daß du reitest und läßt deinen Vater zu Fuß gehen. Du hast jüngere Beine. - Und was glaubt ihr, was werden der Vater und der Sohn jetzt machen?“

„Du hast gesagt, wir sollen still sein!“ „Still! Da saßen beide auf und ritten eine Strecke. Kommt ein dritter Wan-

dersmann und sagt: Was ist das für ein Unverstand, zwei Kerle auf einem schwachen Tier? Sollte man nicht einen Stock nehmen und euch beide hinabjagen? - Da stiegen beide ab und gingen selbdritt zu Fuß, rechts und links der Vater und der Sohn und in der Mitte der Esel.“

„Xa hast du uns heute aber schön hineingelegt, was!“ „Was hab ich?“

„Ja! Du hast doch gesagt, du liest uns was aus dem Rheinländischen Schatzkästlein des Johann Peter Hebel vor!“

„Tu ich doch schon die ganze Zeit: Seltsamer Spazierritt! Von Johann Peter Hebel, wenn ihr nicht glaubt...“

„Aber der gute Hebel hat doch von 1760 bis 1826 gelebt, und wir leben 1978!“

„Liebe Kinder, jetzt versteh ich aber den Zusammenhang nicht!“

„Ist doch watscheneinfach! Was du uns da heute als Gute-Nacht-Geschichte angeblich vorliest, kann ja der gute Johann Peter Hebel gar nicht geschrieben haben, weil sich das alles doch auf die

unmittelbare österreichische Gegenwart bezieht, das merkt doch jedes Kind!“

„Was merkt jedes Kind, liebe Kinder?“

„Na ganz einfach: Das ist doch eine Parabel über die Inbetriebnahme von Zwentendorf.“

„Was sagt ihr da?“

„Naja, genauer gesagt eine Parabel über die Diskussion über die Inbetriebnahme des Kernkraftwerkes von und zu Zwentendorf: der eine sagt so, der andere sagt so, und der dritte, der sagt wieder anders!“

„Kinder, Kinder, was ihr für eine Phantasie habt! Das kommt sicher vom vielen Fernsehen. Aber ich kann euch versichern, mit Zwentendorf hat diese Geschichte gar nichts zu tun: weil die in der Geschichte reden ja nicht bloß, sondern handeln ja auch! Soll ich weiterlesen?“

„Brauchst du gar nicht! Wir können es uns ohnehin ausrechnen, wie's weitergeht!“

„Da bin ich aber gespannt.“

„Na, ist doch ganz einfach: Der dritte hat gesagt, nicht in Betrieb nehmen, also traut sich keiner von den beiden reiten, verstehst du? Und jetzt kommt natürlich noch ein vierter, der ausgerechnet hat, wieviel die Erhältung des Esels kostet, auch wenn man nicht reitet, und der wird sagen: Wenn ihr schon einen Esel habt, wieso reitet dann nicht wenigstens einer?“

„Tatsächlich, so steht's da: Kommt ein vierter Wandersmann und sagt: Ihr seid kuriose Gesellen. Ist's nicht genug, wenn zwei zu Fuß gehen? Geht's nicht leichter, wenn einer von euch reitet? - Also nach eurer Theorie würde jetzt die Geschichte wieder von vorn anfangen, oder nicht?“

„Nur bis zum 5. November! Denn dann wird ja Zwenti, will sagen der Esel, stillgelegt!“

„Ihr und eure utopische Phantasie! -Aber beim Hebel heißt's ja auch: Da band der Vater dem Esel die vordem Beine zusammen und der Sohn die hintern, und sie zogen einen starken Baumpfahl durch, der an der Straße stand,,und trugen den Esel auf der Achsel heim.“

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