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Der Anarchist im Bordell

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Das war keine Fata morgana, das war tatsächlich Pavel Kohout, der

— offenbar geschehen noch Wunder

— zur Uraufführung seines neuen Stückes „Roulette“ eigens aus Prag nach Luzern anreisen konnte. Ein kulturpolitischer Umschwung? Ich fragte Kohout, wie er sich das erkläre. Achselzucken, Bescheidenheit, eine diplomatische Abioehr. Was soll Kohout auch sagen? Schon diese Woche will er zurückkehren in seine Heimat, die drei Wochen, die man ihm bewilligte, nutzt er nicht aus. Pavel Kohout kann also wieder reisen, nachdem ihm die Prager Behörden noch vor einiger Zeit langfristige Regiearbeit in Hamburg untersagt hatten.

Nun ist natürlich die Schweiz nicht die Bundesrepublik, Luzern anderseits ist keineswegs Düsseldorf, wo vor drei Jahren Kohouts „Armer Mörder“ uraufgeführt wurde. Daß der Kasseler Bärenreiter Verlag sich nicht imstande sah — wie früher praktiziert — vor der Aufführung Textbücher an die Presse zu verschicken, wie es heißt auf Wunsch des Theaters, sich dabei auf ein Mitteilungsverbot gemäß Paragraph Sowieso Urheberrechtsgesetz beziehend — dies bestätigt mir, daß man der szenischen Kraft des neuen Kohout wohl doch nicht so ganz vertraute. Wozu sonst diese Geheimniskrämerei? Befürchtete man, die Journalisten würden kräftig gegen Kohouts Stück zitieren? Die Russen

— dumm, faul, besoffen — kommen schließlich schlecht weg in dieser Adaption der Erzählung „Finsternis“ von Leonid Andrejew, geschrieben 1907.

Im Programmheft, teilt Kohout mit, er habe schlechte Erfahrungen mit einem Teil der deutschen Kritik gemacht, die zwischen Werk und Tagespolitik Kurzschlüsse suche, „ohne auf dessen tiefere und langfristigere Bedeutungen zu achten“. Eine zentrale Frage: Die Verantwortung der westlichen Kritik einem tschechoslowakischen Autor gegenüber. Auf der anderen Seite: sind denn die Kollegen Theaterkritiker in die CSSR einmarschiert oder wer? Daß ein Stück, vom Autor losgelöst, sozusagen interpretatorisches Freiwild ist, liegt in der Natur der Sache.

Worum geht es in „Roulette“, einer Auftragsarbeit für die Internationalen Luzerner Musikfestwochen? Alexej, ein anarchistischer Revolutionär, sucht Zuflucht in einem Bordell, das überwiegend von zaristischen Offizieren frequentiert wird. Ljuba, die erst seit kurzem im horizontalen Gewerbe tätig ist, will den intellektuellen Anarchisten verführen, was nur mühsam zu erreichen ist — am Ende, wenn sich die Situation umkehrt nach viel Alkohol und allgemeiner Fleischesorgie. Nun ist die sanfte Ljuba störrisch, von Uta Sax mit rostiger Kehle gespielt. Alexej wird denunziert, Christian Quadflieg bricht unter den Faustschlägen einer gnadenlosen Polizei zusammen. Aus der Traum von einem Leben — gentleman like — Alexej gab sich dem Kommissar gegenüber im Puff als selbstsicherer, verspielter Bohemien mit englischem Paß aus, der seine Spielchen vor Nutten und Soldaten mit einem russischen Roulette krönt, das darin besteht, immer eine Kugel in der Revolvertrommel zu belassen, den Revolver an die Schläfe zu richten und dann abzudrücken, wobei man nie weiß, ob der Schuß tödlich ist — zur Nachahmung für gekränkte, in ihrer Ehre verletzte Offiziere empfohlen. Plötzlich geht ein Schuß ganz woandershin los. Man ist verblüfft, der Kohoutsche Knalleffekt — Pause. Peter St Öhr hat dies in dem hübschen Dekor von Vaclav Elia nett über die Runden gebracht, Höhepunkte wechseln mit besinnlicher traurig-russischen Einstellungen, doch durch zuviele Szenenwechsel kam der Fluß des etwas spröden Stückes eher ins Stocken. Freundlicher Beifall für den neuen Pavel Kohout, der selbstverständlich wieder über viele Bühnen gehen dürfte.

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