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Die russische Seele konnte man vor der Revolution als ein eigenes psychisches Territorium bezeichnen. Das zeigt sich gerade auch bei dem 1919 verstorbenen Leonid N. Andre-jew, der zu Gorki einmal sagte, nichts solle man halten, alles solle in Stücke gehen, vielleicht liege darin der wahre Sinn des Lebens. Der Tscheche Pavel Kohout wählte schon einmal eine Erzählung Andrejews zum Vorwurf für ein Stück, nun die Erzählung „Finsternis“ für das Schauspiel „Roulette“, das vor kurzem in Luzern uraufgeführt wurde (FURCHE vom 30. August) und nun im Volkstheater zu sehen ist.

Das Stück spielt in einer großen russischen Stadt um die Jahrhundertwende. Der anarchistische Revolutionär Alexej flüchtet in ein Bordell, gibt sich als englischer Diplomat aus, wird verraten, und als ihn die Polizeieskorte abführen will — Knalleffekt am Schluß erschießt ihn die Dirne Ljuba, um ihm Folter und Galgen zu ersparen. Ein Thriller? Was sich zwischen ihm und Ljuba, zwischen ihm und weiteren Bordellbesuchern, zaristischen Offizieren, begibt, dient ausschließlich dazu, eine für das alte Rußland typische Seelenverfassung in Alexej herauszuarbeiten, ein lustvolles, fast masochistisches Spiel mit dem Tod, das bei Saufgelagen besonders erkennbar wird. Es geht hoch her in diesem Bordell, Alexej wirft mit dem Geld der Genossen um sich, er setzt den Revolver, in dem nur eine Kugel steckt, an seine Schläfe, russisches Duell, „Roulette“ mit einem Leutnant, der dann feig kneift.

Diese besondere seelische Situation wird klar anvisiert. Alexej spricht von einer Glorie der Erniedrigung, vom Heldentum der Angst, vom Mut, sich zu fürchten und meint, für ein Ideal zu sterben sei leicht, dagegen sei es schwer, alles zu opfern, um zu leben. Ljuba, kaum viel anders, sehnt sich danach, einen guten Menschen zu schlagen, denn es sei eine Schande, ein guter Mensch zu sein. Diese Einstellung ist kennzeichnend für eine Situation der Ohnmacht. Sie gilt aber nicht nur für die Erniedrigten von damals, sondern erst recht für die von staatlicher Übermacht Erniedrigten von heute. Nur allzu umfangreich sind jene Teile der Erde, in denen die Menschen auf eine bestimmte Funktion beschnitten, erniedrigt werden. Das Stück hat Gegenwartsbedeutung.

Dies mag man als Qintessenz bezeichnen, die sich aus den Begebnissen um Alexej ergibt. Weshalb aber flüchtet er in ein Bordell? Damit dieses Dirnenmilieu vorgeführt wird? Ljuba ist zweifellos gut gezeichnet, aber allzu viele andere „Ljubas“ schauen ihr über die Schulter. Am Anfang des zweiten Teils sackt das Stück ab, doch Regisseur Fritz Zecho versteht durch seine geschickte Inszenierung die Spannung weitgehend aufrechtzuerhalten. Lois Egg betont mit Plexiglas- und spiegelnden Metallflächen im Bühnenbild, entgegen der Jahrhundertwende, den Bezug zur Gegenwart.

Den Fanatiker Alexej spielt Eugen Stark glaubhaft verschlossen-ernst bis exzedierend enthemmt. Berufsbedingte Kälte weicht bei der begabten Vera Borek als Ljuba unaufdringlich echtem Gefühl. Traute Wassler als „Madame“: allzuarge Übertreibung. Peter Hey gibt einen süffisant überlegenen Kommissar, Uwe Falkenbach einen reichlich aufgeregten Hauptmann, Bernhard Hau einen forsch-feigen Leutnant, Aladar Kun-rad einen knechtischen Diener.

Das Schauspiel „Lazaretti oder Der Säbeltiger“ von Fritz Hochwälder, das Ende Juli bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt wurde („FURCHE“ vom 9. August) ist trotz des damaligen Durchfalls im Theater in der Josef Stadt zu sehen. Hans Holt spielt nun den Camenisch nicht ganz durchschaubar, der Betrug wird dadurch darstellersich eher glaubhaft. Genußvolle Brutalität gibt Rudolf Rösner dem Damboritz, Alfred Rei-terer überzeugt als junger Irrenarzt, bei Christian Futterknecht spürt man wehiger den Verfolger als den Sohn aus reichem Haus. Bewährtes Spiel von Leopold Rudolf als Lazaretti, Attila Hörbiger als Galgotzy, Marion Degler als Sekretärin. Das Bühnenbild von Gottfried Neumann-Spallart wurde aus Salzburg übernommen.

In den Kammerspielen bringt das Gastspiel eines Tournee Unternehmens, das in unbegreiflicher Koproduktion mit dem ansonsten ernstzunehmenden Hamburger Ernst-Deutsch-Theater das nahezu läppische Lustspiel „Hotel zum guten Ton“ von dem Iren Hugh Leonard vorführt; bearbeitet wurde es von Wolfgang Spier in Knorke-Deutsch. Nichts von irischem Hintersinn, dagegen gibt es einen Mann in geblümter einstmals Unaussprechlicher, einen klemmenden Reißverschluß an seiner Hose, rasantes Feydeausches Hin und Her im zweiten Teil. Das reicht Walter Giller als auf Grobheit spezialisierter Showmaster beeindruckt weniger als erwartet.

Auf kleinen Bühnen wird gelegentlich immer wieder Cabaret geboten. So sieht man derzeit im Kleinen Theater im Konzerthaus eine Caba-ret-Folge „Machen Sie sich stark, Madame“ von Georg Kreisler und Tamar Radzyner mit Topsy Küppers in wirkungsvollem Alleingang. Anlaß: das Jahr der Frau. Da erstehen lebendig zahlreiche Frauengestalten, von der schwerreichen Gans bis zur jungen jüdischen Mutter, die zu ihrem Säugling sagt: „Für was bist du gekommen?“ Topsy Küppers spricht über diese Frauen, verwandelt sich in den Liedern mit sparsamsten schauspielerischen Mitteln, bei geringfügigen Andeutungen im Kostüm, völlig in sie. Die verschiedenen Schicksale lassen mitunter ergreifend das Fragwürdige des Daseins erkennen, schmerzliches Lächeln ergibt sich, oft befreiendes Lachen. Schwächer der Abschluß: Aufruf im Sinn des Titels. Georg Kreisler begleitet seine melodiösen Lieder hinter einem Paravent am Klavier.

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