Beim Küssen - Augen zu, beim Wählen’- Augen auf!“ Das sich gerade küssen wollende junge Paar auf den Wahlplakäten der PDS in den Berliner U-Bahnstationen sieht konzentriert und fröhlich aus, der kahlköpfige junge Mann mit der verkehrt aufgesetzten Schirmmütze blickt gelassen auf die halbgeschlossenen Lider seiner brünetten Partnerin.
An den zwei jungen Gesichtern bleiben viele Blicke der Passanten länger hängen.
Gregor Gysi wird wissen warum. Das Plakatpaar sieht nicht aus, als hätte es rote Socken an. Höchstens einer von den beiden. Aber es heißt ja andernorts „Gemeinsam“ und „Zusammen“, den jungvereinten Teilen Deutschlands klingen die beiden Begriffe wohl immer noch nach Utopie.
Rudolf Scharping wünscht sich bärtig-strahlend einen „Kanzlerwechsel“ und Helmut Kohl läßt es bei seinem glattrasierten Gesicht, das aus der Menge in die Menge lächelt und ohn» Text bewenden. Wahlentscheidend sind ohnehin nur Auftritte im TV.
„Arbeit — keine Gnade, Wohnen - kein Luxus, Jungsein, Altsein - keine Schande.“ Wieder PDS. Dazwischen Köpfe um Köpfe an den Straßenrändern, die Bewerber um die Zweitstimmen.
Fast keiner der Wähler scheint hinzusehen auf seinem in dieser von Baustellen strotzenden "Riesenstadt zur Zeit mehr als beschwerlichen Weg - zur Arbeit, so er eine hat, - oder zum Sozialamt, so er keine hat.
Unter den Wählern Deutschlands sind fast fünf Millionen Sozialhilfeempfänger, vier Millionen Arbeitslose sowie fast eine Million Obdachlose.
Der halbjunge HIV-Positive, der junge, seit Geburt halbseitig Gelähmte, die blutjunge, verwahrlost wirkende Familie (Baby im Tuch auf den Rücken geschnallt), die uns U-Bahnfahrende zwischen zwei Stationen in laut vorgetragenen Ansprachen um unsere Aufmerksamkeit und eine kleine Spende bitten — sie vereint die Obdachlosigkeit. Seit ein paar Monaten, sagen viele, seit ein paar Wochen die wenigsten.
Wen oder was wählen die? Oder läßt man das Wählen, wenn man nirgendwo mehr gemeldet ist …
