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Wer wagt noch eine „Publikumsbeschimpfung”?

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Es war eine gute Idee, einen neuen Kunst- und Kulturpreis „Marlene” zu benennen und ihn Leuten wir Marcel Marceau und Andre Heller zu verleihen. Einen deutschen Kulturpreis nach Marlene Dietrich zu nennen war wohl begründet Erinnerungen von der Lola in „Der blaue Engel” über „Shanghai-Express” bis zur „Zeugin der Anklage” tauchen auf. Das deutsche Fernsehen hat die Berliner und Berlinerinnen gefragt, ob sie sich darüber freuen würden, daß Berlin jetzt auch noch eine „Marlene-Dietrich-Straße” bekäme? Die Antwort aus des Volkes Mund war klar und deutlich: Nein! Es gäbe keinen Grund, eine Straße nach ihr zu nennen, außerdem sei sie ja eine „Feindin” des deutschen Volkes gewesen. Sie hätte nicht nur 1937 die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen, sondern habe während des Zweiten Weltkrieges antifaschistische Organisationen unterstützt und sei in der alliierten Truppenbetreuung tätig gewesen. Also keine Straße für eine „Volksfeindin”!

Nun wird man wohl nicht annehmen dürfen, daß es sich bei der Berliner Bevölkerung um einen besonders vertrottelten Teil der Spezies Mensch handeln würde. Mit großer Wahrscheinlichkeit darf unterstellt werden, daß die „Frau beziehungsweise der Mann von der Straße” in Wien genauso blöd ist. Pflegt ja auch der „homo Vindobonensis” das, was 1945 geschehen ist, eher als „Zusammenbruch” denn als „Befreiung” zu bezeichnen.

Zugegeben, es gibt Wichtigeres als die Zustimmung zu einer „Marlene-Dietrich -Straße”. Bleibt nur die Frage, wer endlich einmal den Mut haben wird, den Leuten zu sagen, wie entsetzlich und gefährlich dumm sie oft gerade in entscheidenden Augenblicken sind. Wenn niemand mehr eine „Publikumsbeschimpfung” wagt, ja wenn es als unangefochtenes Tabu gilt, daß jeder Mensch für die Medien - eine ernstzunehmende Meinung hat, dann wird es gefährlich. Und wenn ein Minister befürchten muß, daß Mütter ohne finanzielle Beloh nung nicht mit ihren Babies zum Arzt gehen, und politische Parteien feststellen, daß ihnen das Wählervolk lieber Denkzettel gibt als selbst nachzudenken, dann sind wir in Österreich!

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