Der unsichtbare Trauergast: ungelebtes Leben

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Das ungelebte Leben ist ein ständiger Begleiter in unserem Inneren. Heute wird es auch vom gesellschaftlichen Optimierungswahn genährt.

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Das ungelebte Leben ist ein ständiger Begleiter in unserem Inneren. Heute wird es auch vom gesellschaftlichen Optimierungswahn genährt.

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Corona wirft heuer einen Schatten auf die Dinge, die sich Schüler und Schülerinnen nach bestandener Matura so gerne gönnen: Partys, Urlaub, (Fern-) Reisen. Doch es ist ihnen zu wünschen, dass das Virus jenes Lebensgefühl nicht tangiert, das sich nach der „Reifeprüfung“ idealerweise einstellt – geprägt durch einen Geschmack von „Das ganze Leben steht mir offen“. Glücklich sind jene, die aus diesem Geschmack nachhaltige Inspiration ziehen können und einem selbstbestimmten Weg zu folgen beginnen.

Das Bewusstsein für die Offenheit des Lebens wird später ohnehin von der zunehmenden Ahnung für dessen Begrenzungen abgelöst. Die vielleicht allererste Einsicht eines Kindes, wonach Wünsche und Bedürfnisse nicht erfüllt werden müssen, setzt sich später fort in der ernüchternden Selbsterkenntnis: Es gibt Dinge, die nicht eingetreten sind. Die verabsäumt wurden. Die sich nicht mehr realisieren lassen. Denn selbst in einem erfüllten Leben lauern Mangel, Verlust und Isolation. Und all die nicht genommenen Risiken, die gemiedenen oder nie vorhandenen Möglichkeiten beflügeln ein Phantasma, das sich innerlich mehr oder weniger ausbreiten kann: das ungelebte Leben. „Wir teilen unser Leben mit jenen Menschen, die wir nicht geworden sind“, schreibt der Psychoanalytiker Adam Phillips in seinem Buch „Missing Out“ (2012). „Unser gelebtes Leben kann zu einer langwierigen Klage über jenes Leben werden, das wir nicht fähig waren zu leben.“

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