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Love Story

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Dem Autor gelingt das Unwahrscheinliche: Die Biographie eines vielfach gehörnten alternden Ehemannes, dessen Gemahlin eine der legendären Liebhaberinnen der Sittengeschichte ist, und der selbst nicht mehr ist als Kunstsammler, Naturforscher und Diplomat. Und dieses Buch, eine Übersetzung aus dem Englischen, erscheint in unserer Zeit der maximalen Erotisierung und Se-xualisierung des Literarischen!

Besagte Dame ist keine geringere als die Geliebte des englischen Seehelden Admiral Lord Nelson; sie kommt aus der sogenannten Gosse Londons und wird nacheinander Insassin eines dortigen Bordells, Mätresse verschiedener ehrenwerter Gentlemen, Gattin des Botschafters der Britischen Majestät am Hofe Beider Sizilien, Busenfreundin der Königin Maria Karoline („ich bin eine Tochter Maria Theresias“), doppelt „verwitwete“ Hinterbliebene ihres Gemahls und ihres Geliebten Lord Nelson, schließlich wieder versunken in Not, Schuldgefängnis, Tod in der Fremde.

Die faszinierende Love Story dieses routinierten Frauenzimmers ist tatsächlich nur Background der Biographie ihres Herrn Gemahls: Sir William Hamilton, 37 Jahre lang britischer Botschafter am Hofe in Neapel, Naturforscher und Fellow der Royal Society, hervorragender Kunstsammler. Und was ist in dieser Biographie so lesenswert?

Viele Leser werden sich in die äußerst interessant geschriebenen

Passagen versenken, in denen ein typischer Kunstliebhaber des 18. Jahrhunderts beschrieben wird, das Zustandekommen seiner Sammlungen, deren wechselvolles Schicksal und ihre endgültige teilweise Bestimmung für das British Museum. Andere wird die Dramatik der Sukzessionen faszinieren, die vom Ancien regime in Neapel, damals nach Paris größte Stadt auf dem Kontinent, in das wackelige Zeitalter der Koalitionskriege mit der französischen Republik, in den beginnenden Umsturz der europäischen Verhältnisse und bis auf den Höhepunkt der französischen „Ordnungsmacht' in Italien führen. Wohl die meisten werden aber bezaubert sein von dem großartigen Bild der neapolitanischen Kulturlandschaft.

Es ist eine Kulturlandschaft, die noch von einer ungeheuer vitalen Ursprünglichkeit erfüllt ist. Sie ist noch „geordnet“ nach Interessen der Urbanisierung, des Verkehrs, der archäologischen Ausgrabungen, des Musealen, des zur Schau Gestellten, des Massentourismus; noch nicht „umweltverschmutzt“ im Unterschied zum damaligen „göttlichen Schmutz“ zu Füßen von übersteigertem Luxus und Genuß.

Wer den nächsten Sommer in diesem Süden verbringen will, der nehme dieses Buch mit. Er wird in Vergangenem Gegenwärtiges zuweilen vollkommener erfassen können als mit Hilfe eines Reiseführers aus 1972. Vor allem noch einen Hauch des Romantischen jener Tage. Einen Nachhall von Sturm und Drang. Eine heutzutage unglaubliche „Unordnung“. Und das alles im Kontrast zum damals beginnenden ersten Zeitalter der Vernunft, der geheiligten Ratio, des aufdämmernden Klassizismus. Instinktsichere Unvernunft, zügellose Menschlichkeit, raffinierte Niedertracht und unwiederholbare Kultiviertheit. Und alles in Kontrast zum geistigen und menschlichen Klima des Englands jener Tage.

SIR WILLIAM HAMILTON. Von Brian Fothergill, Diplomat, Naturforscher, Kunstsammler. Biederstein-Verlag, München 1971, 484 Seiten, DM 28.— (aus dem Englischen).

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