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Mord en detail und en gros

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Programmgemäß Mitte August begann die Kinosaison — und sie kündigte sich in diesem Jahr schon mit einigen Paukenschlägen an: mit Claude Chabrols heurigem „Vien-nale“-Beitrag „Juste avant la nuit“ („Kurz vor Einbruch der Nacht“), einem psychologischen Kammerspiel-Kriminalfilm, und der Wiederaufführung von Chaplins 1940 erstaufgeführter Hitler-Persiflage „Der pro.ße Diktator“, die wir allerdings zum erstenmal erst 1958 zu sehen bekamen — verständlicherweise...

Das Bemerkenswerteste in Chabrols neuester Ehedurchleuchtung ist, daß wir den Film in französischer Originalfassung (mit deutschen Untertiteln) serviert erleben dürfen, wodurch immerhin einige Feinheiten dieses delikaten Kammerspiels um „Schuld und Sühne“ 1972 nicht durch bundesdeutsche Sprachsoße verdeckt sind; Freunde dieses seit vielen Jahren bewährten Chabrol-Stils, dessen letztes typisches Beispiel — „Die untreue Frau“ — sich kaum von dem neuen Opus unterscheidet, werden zweifellos an ihm sicher viel Genüßliches entdecken. Ihn jedoch als leuchtendes Beispiel der Entlarvung „einer verkommenen Klasse“ und somit gesellschaftskritisch-linkes Meisterwerk hinzustellen (an Stelle handwerklich hervorragend gestalteter Kommerzware), soll fanatisch-scheuklappentragenden Stalin-Jüngern vorbehalten bleiben.

Mit Ende des „schönen, großen Schweigens“, des Stummfilms, fühlte Chaplin sich gezwungen, in Worten auszudrücken, was er vorher in der Pantomime, in der Bildsprache so herrlich beherrscht hatte; und hier stellt sich heraus, daß der stumme Chaplin der weitaus größere war, daß das gesprochene Wort aus Charlies Mund seltsam unglaubwürdig, hohl und wenig überzeugend kommt. Auch in seiner Hitler-Satire sind die grandiosesten Szenen jene, in denen er nur auf den Bildgag, auf die Enthüllung durch die Kraft der Mimik, der trefflich durchschauten und karikierten Pose und der persiflierten Klischeewendungen zurückgreift (so der geniale Tanz mit der Weltkugel, die typischen Gesten und Bewegungen in verzerrter Outrage). Sobald das Wort hinzukommt, enthüllt sich eine unwahrscheinliche Naivität, ja sogar Banalität, eine aufgesetzte Milde, die angesichts der unwahrscheinlichen Bosheit mancher Chaplinscher Ausfälle wohl kein denkender Zuschauer mehr zu glauben geneigt ist. Die große humanitäre

Schlußrede des Films, Chaplins wohl beabsichtigter Höhepunkt, ist ein hohl-pathetischer Appell an ein Weltgewissen, das ihn nicht zur Kenntnis nahm (obwohl er vom „großen Charlie“ stammte), und dessen Naivität durch die Ereignisse seit 1940 deutlich sichtbar wird. Auch mag es anzweifelbar erscheinen, ob man ein KZ als Hintergrund für komische Gags wählen kann. Zeitlos, nach wie vor, die Entlarvung Hitlers, überhaupt des Symbols der Diktatur in der komischen Darstellung des Mechanismus, des Apparates. Und daß Witz mitunter eine tödliche Waffe sein kann, beweist heute noch die Angst (mancher Politiker und Diktaturen) vor ihm. Ein ungemein interessanter, unbedingt sehenswerter, wenn auch sehr .zwiespältiger Film, Chaplins „Der große Diktator“...

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