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Schicksale

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Julius Bab, der bekannte nach den USA emigrierte Berliner Literatur- und Theaterkritiker, bezeichnet die „Spoon-River-Anthology“ als ein Werk von bleibendem Wert, das alles, was Edgar Lee Masters geschrieben hat, weit überragt. Dieser merkwürdige Mann, in seinem bürgerlichen Beruf Rechtsanwalt, erst in einer Kleinstadt, dann in Chi-kago, lebte von 1868 bis 1950, begann und endete unter dem Einfluß der großen englischen Romantikerlyrik, füllte 50 Bände mit Werken fast aller Gattungen, hat jedoch, wahrscheinlich, nur mit einem Werk Aussicht zu überleben. Es sind die 246 Epitaphen, die zuerst in einer amerikanischen Zeitung erschienen, im Jahr darauf, 1915, als umfangreiches Buch vorgelegt wurden und einen für „Lyrik“ ungewöhnlichen Erfolg hatten. Aber erst vor knapp dreißig Jahren fanden sie ihren Weg auch in den deutschen Sprachraum ...

Der Titel „Spoon-River-Anthology“ steht bescheiden für die echte „Com6die humaine“ einer amerikanischen Kleinstadt. Auf einem Friedhof beginnen die Grabsteine zu sprechen und, im Rückblick auf ein meist verpfuschtes und enttäuschendes Leben, zu erzählen: in Gedichten, in poetischer Prosa, sachlich referierend, zuweilen sarkastisch, aber meist mit einer von Trauer umwölkten Stimme: ein Rentner, ein Fabrikant, ein Taglöh-ner, ein altes und ein leichtes Mädchen, oft mit sozialen Anklagen und existentiellen Nöten, wie sie später von Sherwood Anderson, Sinclair Lewis und Faulkner gestaltet wurden. (Lee Masters hat übrigens in den dreißiger Jahren auch einige bitterböse Monographien berühmter Landsleute geschrieben, wie Lincoln, Lindsay, Whitman und Mark Twain. 1937 veröffentlichte er seine Autobiographie unter dem Titel „Across Spoon River“.)

Auf der kleinen Bühne saßen, rezitierten, spielten und sangen am vergangenen Sonntagabend vier vorzügliche amerikanische Künstler: die unglaublich wandlungsfähige Ruth Brinkmann in 22 „Rollen“, David Manley in 15, und als Zwischenspiele sangen und musizierten auf Gitarre und vielerlei Schlagwerk Lance Lumsden und Julie Parsons, von der auch das diskrete Arrangement der Volkslieder stammt. Unter der Regie von Dr. Franz Schafranek lief dieses vielteilige Programm ebenso reibungslos wie virtuos ab, und zwar mit häufigem Kostümwechsel (Fay Compton), aber vor einheitlichem Hintergrund: einer von Tibor Vartok im Stil der Grandma Moses gemalten Dorfidylle.

„Spoon River“ ist ein Hit des „Vienna's English Theatre“ und wurde auch schon auf Auslandstourneen gezeigt. Die Gala mit viel Künstprominenz und nicht weniger als 25 Botschaftern sowie die Wiederaufnahme bis 25. August erfolgten anläßlich der 200-Jahr-Feier der USA.

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