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Wir weichen nicht!

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Donnerstag, 21. Dezember, 21 Uhr 30:

In Höhe des Coltea-Spitals kom- men Pulks durch die zurückwei- chende Menschenreihen angerannt, sie bringen auf Decken, zusammen- geknoteten Mänteln, Maschen- drahtliegen von Eisenbetten Tote oder Verletzte, ist es ein Toter, läu- tet die Glocke des Kirchleins. Sal- ven von Leuchtspurgeschossen fegen immer tiefer über die Köpfe der Menge hinweg. Nach jedem Geprassel folgen Tausende Pfiffe, erschallen die Rufe „Nieder mit Ceausescu", „Temeswar", „Ohne Gewalt, ohne Gewalt", erfolgt tau- sendfaches rhythmisches Klatschen und der „Ole, ole, ole, Steaua, Steaua" -Ruf der Schlachtenbumm- ler. Ich segne zum ersten Mal im Leben die Einrichtung Fußball, die dies unmißverständliche Zeichen der Massensympathie mit der Armee geboren hat. In Höhe des Metroausgangs auf dem Magheru- Boulevard lodert ein riesiges Feu- er. Die Salven der Leuchtspurge- schosse folgen in immer kürzeren Abständen. Kaum zehn Schritt entfernt sackt ein Mann zusammen. Die Frau kreischt auf. Sofort ent- steht ein Menschenpulk, bahnt sich einen Weg zum Coltea-Spital. O Gott, die schießen in die Leute, und die Menge brüllt „Ohne Gewalt", „Ohne Gewalt", die schießen in die Leute, und die Menge brüllt Losun- gen vom Fußballstadion. Und dort vorne, in den ersten Reihen vor dem Kordon der Schild- und Schutz- helm-bewehrten Spezialeinheiten, der den Magheru-Boulevard abrie- gelt, angeleuchtet von den meter- hohen Flammen, tanzen Jugendli- che die Hora Unirii. An die fünf- tausend Menschen, die auf dem Universitatii-Platz ausharren, in Abständen „Wir weichen nicht", „Wir weichen nicht" skandieren, fallen ins Lied ein, tanzen auf der Stelle, ein gepanzerter Mann- Schafts wagen fährt los, mitten in sie hinein, Massenflucht, Tausende Pfiffe, „Mörder", „Mörder"-Rufe, „Temeswar", „Temeswar", Maschi- nengewehrsalven mit Leuchtspur- geschossen, vor denen ich hinters Gebäude des Stadtmuseums flüch- te. „Wir weichen nicht", „Wir wei- chen nicht", der Ruf übertönt das spärlicher werdende Maschinenge- wehrgeknatter, die Leute strömen wieder auf den Universitatii-Platz, ich schließe mich ihnen an. Die Todesangstschwelle ist durchbro- chen. Irgendwie ist das umgekippt. was eine jahrzehntelange Bewußt- seinsspaltung in uns aufgebaut hat: selbst etwas zu fühlen und denken, öffentlich aber entgegengesetzt zu handeln. Ich habe furchtbare Angst, höre aber doch auf die leise Stimme im Kopf, die ,Roland Kirsch' flü- stert, ,Jetzt oder nie', während ich „Ole, ole, ole, Steaua, Steaua" brül- lend, keuchend, stammelnd, klat- schend in Richtung des Kordons auf dem Magheru-Boulevard stür- me, entsetzt bemerke, wie sich uns immer weniger Leute anschließen. Und das irreale Bild der tausend Kerzen vor dem Nationaltheater, die zwei gepanzerten Spähwagen vor dem Gheorghe-Lazar-Denk- mal, die unentwegt Salven von Leuchtspurgeschossen über die Köpfe hinweg feuern, die Stich- flamme, die ab und zu aus dem Feuer emporschießt, die gespensti- schen Kreuze, die vereinzelt über der Menge auftauchen. Wie durch ein Wunder ist George wieder ne- ben mir, ich bin gleich gefaßter. George fragt, wo die Nachtschicht bleibt, wo die zweieinhalb Millio- nen Bukarester bleiben, wo sich denn die Einwohner aus den Ge- bäuden ringsherum verkrochen haben. Wieder schwere Maschinen- gewehrsalven, vor denen wir hin- ters Museumsgebäude flüchten. Als wir nach fünf Minuten die Deckung verlassen, „Wir weichen nicht", „Wir weichen nicht" rufend, sehen wir, wie zwei Kipplaster vom Re- publicii-Boulevard kommen, man macht ihnen jubelnd Platz, sie fah- ren dicht ans Feuer vor dem Me- troausgang auf dem Magheru-Bou- levard ran, werden angezündet. Und sie tanzen-wieder im Schein der Flammen, die Todesverachtung der Mädchen übersteigt jede Vorstel- lungskraft, die Stimmressourcen der Jungen kommen aus den Fä- chern, wo der letzte Schrei sitzt, und sie singen trotzdem mit grau- enhafter Freude Ole, ole, ole, ole, Ceausescu nu mai e (Ceausescu ist nicht mehr), den Ruf der von einem Zeitpunkt an, ich gab mir gar nicht Rechenschaft wie, den Schlachten- bummlerruf ersetzte.

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