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Das Ventil

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Bei den nächsten Nationalratswahlen wird es für den österreichischen Wähler einige Ueber-raschungen geben. Um jedem Irrtum vorzubeugen: wir geben heute keineswegs eine politische Prognose. Wir sprechen allein vom Wahlvorgang. Aller Voraussicht nach werden wir alle beim Gang zu den Urnen jene freundlichen jungen Leute vermissen, die uns knapp vor der um jedes Wahllokal gezogenen „Bannmeile“ noch rasch mit einem Stimmzettel ihrer Partei versorgen wollen — der amtliche Stimmzettel ist nämlich auf dem Wege. Eine alte Forderung vor allem kleinerer, mit geringem Wahlbüdget ausgestatteter Gruppen soll mit dem am 11. Juni im Nationalrat eingebrachten gemeinsamen Antrag der beiden Regierungsparteien verwirklicht werden.

Gleiche Chancen am Start für alle, für groß und klein: ein schöner Gedanke, der allerdings seine Feuerprobe erst bestehen muß. Nahe liegt nämlich die Vermutung, daß ein solcher amtlicher Stimmzettel nicht nur kleine Parteien begünstigen, sondern sogar ferngesteuerten Splittergruppen unverdiente Ehren zukommen lassen kann. Politisch indifferente Zeitgenossen können hier noch leichter Täuschungsmanövern zum Opfer fallen als bisher. Auch bekommen sogenannte „Trotzwähler“ die staatlich subventionierte Chance, ihre Gunst irgendeiner ominösen Zwergpartei zu schenken, von deren Existenz sie womöglich bis zur Stunde überhaupt nichts gehört haben.

Nun: die großen Parteien haben die Frage der Ausgabe amtlicher Stimmzettel zu ihrer Angelegenheit gemacht. Sie müssen in dieser Hinsicht auch gewisse Folgerungen erwogen haben.

Der Antrag auf Einführung des amtlichen Stimmzettels vom 11. Juni 1958, so schön und demokratisch er auch sein mag, hat noch einen Bocksfuß. Und dieser könnte leicht den Wähler treffen. Nach dem Antrag auf Aenderung der Nationalratswahlordnung soll der einschlägige Paragraph 76 künftighin lauten: „Nach der Veröffentlichung der Wahlvorschläge hat die Wahlbehörde die erforderliche Anzahl amtlicher Stimmzettel aufzulegen. Auf dem amtlichen Stimmzettel sind die wahlwerbenden Parteien zu verzeichnen.“

Merkt der geschätzte Leser und Wähler etwas? Würde dieser Antrag in dem vorliegenden Wortlaut Gesetz, so wäre das so mühsam erkämpfte und in den Sekretariaten nicht allzu beliebte Recht des Wählers, durch Reihen und Streichen Gunst und Antipathie gegenüber bestimmten Kandidaten zu verteilen, auf kaltem Wege eliminiert. Die starre Liste würde selbst über diesen sehr schüchternen Ansatz zum Persönlichkeitswahlrecht endgültig triumphieren. Ein Ventil, das dem Staatsbürger bei aller Freundschaft zu der Partei seiner Gunst die Möglichkeit gibt, Kritik anzubringen, fiele aus.

Noch ist der Antrag nicht Gesetz. Er wird es auch voraussichtlich vor den Ferien nicht werden. Es ist aber gut, schon jetzt auf seine ausgesprochenen Schönheitsfehler hinzuweisen und _ wie es auch bereits geschehen ist — die Möglichkeit einer Korrektur bei gutem Willen aufzuzeigen. Noch ist es also Zeit...

Ventile sind keine Schmuckstücke. Ventile sind zur Sicherheit unerläßlich. Fällt eines nach dem anderen aus oder verstopft man sie sogar leichtsinnig oder mutwillig, so muß man eines Tages mit einer Kesselexplosion rechnen. Niemand kann eine solche wollen.

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