Statt flüssiger Demokratie überflüssig

Werbung
Werbung
Werbung

"Die Welt“ über den rasanten Zerfallsprozess der deutschen Piratenpartei und die Entzauberung des Versprechens von der Liquid Democracy.

Die Piraten sind dünnhäutig geworden. Die Zeiten scheinen vorbei, da sie in Talkshows mit einem permanenten Anflug von spöttischem bis abschätzigem Lächeln auf den Lippen etablierte Politiker durch ihre bloße Präsenz in nervöse Reizzustände versetzen konnten. Nun sind es prominente Piraten wie der Berliner Fraktionsvorstand Christopher Lauer, bei denen Kritik an ihrem Tun und Lassen schnell als Majestätsbeleidigung ankommt.

Lauer verließ kürzlich eine Podiumsdiskussion in Berlin schon nach wenigen Minuten, weil er sich von den Attacken eines Berliner Abgeordneten verunglimpft fühlte, der ihm und seinen Mitpiraten parlamentarische Untätigkeit und chronische Selbstbezogenheit vorgeworfen hatte.

Rückzüge und Rücktritte pflastern den Weg, den die Piraten in ihrer noch jungen Geschichte durchstolpert haben. Zuletzt wurde der Geschäftsführer des Landesverbands Nordrhein-Westfalen, Klaus Hammer, geschasst, weil er private Informationen über eine verfeindete parteiinterne Gruppierung weitergegeben haben soll. Dass es bei den Piraten zugeht wie in einer Mischung aus Komödienstadel und Gruselkabinett, lässt die Partei in den neueren Meinungsumfragen drastisch absinken (zuletzt unter fünf Prozent).

Selbstdemontagen

Dabei nimmt die Selbstentzauberung burleske Züge an: Das Bundesvorstandsmitglied Julia Schramm, schreibt ein Buch, und ihr Verlag geht prompt gegen das kostenlose Kopieren des Werkes vor, für das die Piraten mit fliegenden Fahnen auf die Barrikaden gegangen sind. Die Erklärungen der Autorin, sie lehne ja "nicht das Urheberrecht“, sondern nur "den Begriff des geistigen Eigentums ab, weil er ein Kampfbegriff ist“, ging im allgemeinen Hohngelächter der medialen Öffentlichkeit unter.

Auch auf anderen Feldern klafft bei den Piraten Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Ihre Idee einer "Liquid Democracy“, die sie zuerst in den eigenen Reihen per Einrichtung einer digitalen Plattform exemplarisch ausprobieren wollten, scheitert einstweilen nicht nur an chronischen technischen Problemen.

Liquid mit Schwierigkeiten

Es zeigt sich auch, dass nur eine kleine Minderheit von der Möglichkeit Gebrauch macht, sich qua Internet in Echtzeit in die politischen Entscheidungsprozesse der Partei einzuschalten. Es ist, als müssten die Piraten sämtliche schlechte Erfahrungen, die mit der "Basisdemokratie“ längst gemacht wurden, im Zeitraffertempo von vorne durchleben - bis auch sie vielleicht einmal verstehen werden, dass Demokratie nur in repräsentativer Form und in festgelegten, regulativen Verfahren funktionieren kann. Wenn alle gleichzeitig reden können, so lautet die wichtigste dieser Erfahrungen, reden nur die wenigen, die sich am schnellsten und lautesten das Wort verschaffen. Und wenn alle bei allem unmittelbar mitentscheiden sollen, bilden sich erst recht Seilschaften und informelle Cliquen, die hinterrücks ihre Mehrheitsbeschaffung organisieren. In der "flüssigen Demokratie“ fehlen regulative Instanzen. Nur sie bietet die Gewähr, dass in die Willensbildung jene einbezogen werden, die sich auf dem politischen Markt nicht artikulieren können oder wollen.

Wenn der Hype um die Piraten auch erst einmal vorüber sein mag - das Potenzial des Grolls gegen institutionalisierte Formen von Politik bleibt erhalten. Der "Dammbruch“, den die Piraten bereits jetzt erzielt haben, besteht darin, dass mit ihnen das antipolitische Ressentiment erstmals eine organisierte politische Form angenommen hat.

* Aus Die Welt, 10. Oktober 2012

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung