"Die Sensibilität des Kindes spüren"

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Obwohl die wissenschaftliche Anerkennung seines Werkes erst relativ spät kam, gilt Andreas Rett heute als Pionier.

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Obwohl die wissenschaftliche Anerkennung seines Werkes erst relativ spät kam, gilt Andreas Rett heute als Pionier.

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Zu einer Zeit, als dies noch nicht selbstverständlich war, setzte sich der Wiener Kinderarzt Professor Andreas Rett für die Integration und Akzeptanz Behinderter in unserer Gesellschaft ein. Als Rett in einem Interview einmal gefragt wurde, wie er sich denn die Weiterführung seines Lebenswerkes wünsche, antwortete der damals schon weltweit bekannte Kinderarzt, dass dies davon abhänge, "ob sich genügend Menschen finden, die imstande sind, das, was man als Sensibilität des Kindes bezeichnen kann, zu spüren und aufzunehmen. Und die das behinderte Kind nicht als Kranken sehen, sondern als einen Menschen mit einer Störung in bestimmten Bereichen, die zu überwinden ist."

Behinderung galt in den 50er und 60er Jahren noch vielfach als Tabu, viele behinderte Kinder waren in Altersheimen oder Spitälern untergebracht. "Mein Vater suchte bei allen verantwortlichen Stadtpolitikern um die notwendigen Mittel an, um eine eigene Abteilung für diese Kinder gründen zu können", berichtet die Tochter des Wiener Kinderarztes, Andrea Schneider. 1956 entstand dann auf Betreiben von Rett in Lainz eine eigene Abteilung für entwicklungsgestörte Kinder. Zehn Jahre später übersiedelte diese in einen eigens erbauten Pavillon am Neurologischen Krankenhaus Rosenhügel. Rett leitete diese Abteilung bis 1989.

Fingerspitzengefühl "Er war eine sehr starke Persönlichkeit und er hatte stets das Ideal, Behinderten in allen Bedingungen gerecht zu werden", erinnert sich sein langjähriger Mitarbeiter, Heinz Krisper. Rett war einer der ersten, der ein multidisziplinäres Team an seiner Abteilung aufbaute und die intensive Zusammenarbeit mit Psychologen, Sozialarbeitern und Eltern suchte. Er bemühte sich auch darum, dass bei behinderten Kindern alle notwendigen medizinischen Eingriffe bis hin zur zahnärztlichen Untersuchung "mit besonderem Fingerspitzengefühl" durchgeführt wurden und ihnen "der Segen der Technik nicht vorenthalten wurde", so Krisper.

"Es gelang ihm meist, bei den Eltern Hoffnungen zu wecken und ihnen zu zeigen, wie sie ihre Kinder fördern könnten. Gleichzeitig steckte er aber auch die Grenzen ab", erzählt die Tochter. "Gerade für die Eltern ist die exakte Diagnose des Krankheitsbildes ungemein wichtig. Damit werden Unsicherheiten ausgeräumt und es erleichtert den Umgang mit der Erkrankung", meint Schneider, die selbst die Medizinerlaufbahn eingeschlagen hat.

Während Rett von der Gesellschaft forderte, "dass auch behinderte Kinder Kinder sind, mit allen körperlichen, seelischen und geistigen Ansprüchen", stand er der schulischen Integration eher reserviert gegenüber. "Mein Vater vertrat die Ansicht, dass hinter jedem Defizit immer noch Fähigkeiten stecken, die gefördert werden können", erklärt Schneider. Ohne eine spezifische, ihrer Art der Behinderung entsprechende Förderung könnten die Kinder ihre Defizite aber noch mehr zu spüren bekommen. Depressionen, aber auch Aggressionen wären die Folge. Die Integration behinderter Menschen in die Gesellschaft verfolgte Rett dagegen mit Vehemenz. Er selbst bemühte sich immer wieder, seine ehemaligen Patienten in den Arbeitsbereich zu integrieren.

Familien unterstützen Ein Teil des Gedankengutes von Rett hinsichtlich des Umganges mit Behinderten scheint heute verwirklicht, wenn auch in manchen Bereichen die gesellschaftliche Akzeptanz noch zu wünschen übrig lässt. Aber schon die Einführung des Pflegegeldes brachte den Eltern behinderter Kinder finanzielle Erleichterung. Auch der psychologischen Unterstützung der Familien - etwa 80 bis 95 Prozent aller behinderten Kinder werden zu Haus betreut - wird zunehmend Augenmerk geschenkt. Dabei haben sich Selbsthilfegruppen betroffener Eltern als eine besonders hilfreiche und gut angenommene Maßnahme herausgestellt.

Während Rett jedoch versuchte, alle notwendigen Untersuchungen und Behandlungen an einer Klinik durchzuführen, bemühen sich die Verantwortlichen heute mehr um regionale Konzepte. Das bedeutet, dass etwa für eine Physiotherapie eine wohnortnahe Einrichtung zur Verfügung steht und nur bei besonderen Problemen eine Spezialabteilung aufgesucht wird. Derzeit ist österreichweit ein Netz von entwicklungsdiagnostischen und -therapeutischen Ambulanzen im Aufbau, das eine möglichst flächendeckende soziale, psychologische und pädagogische Betreuung bieten soll.

Das Interview mit Prof. Rett ist in der Reihe Wiener Vorlesungen unter dem Titel "Die Geschichte der Kindheit als Kulturgeschichte" im Picus-Verlag erschienen.

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