Fehler in den Erbanlagen

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Am Tag ihrer Geburt sind es scheinbar gesunde Mädchen, die sich in den ersten Lebensmonaten völlig normal entwickeln. Doch dann gelangt die kindliche Entwicklung plötzlich zum Stillstand und die Behinderung wird immer schwerer - ein Gendeffekt raubt dem Gehirn sein Entwicklungspotential.

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Am Tag ihrer Geburt sind es scheinbar gesunde Mädchen, die sich in den ersten Lebensmonaten völlig normal entwickeln. Doch dann gelangt die kindliche Entwicklung plötzlich zum Stillstand und die Behinderung wird immer schwerer - ein Gendeffekt raubt dem Gehirn sein Entwicklungspotential.

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Im Alter von 6 bis 18 Monaten gelangt die kindliche Entwicklung plötzlich zum Stillstand, bereits erlernte Bewegungen und Worte werden wieder verlernt. Mit zunehmendem Alter wird die Behinderung immer schwerer, viele der Kinder können weder sprechen noch gehen und bedürfen einer intensiven Betreuung.

Es handelt sich um ein bis in die 60er Jahre unbekanntes Krankheitsbild, das Rett-Syndrom. Die nach heutigen wissenschaftlichen Kriterien gültige Bestätigung konnte der Entdecker des nach ihm benannten Syndroms, der Wiener Kinderfacharzt, Professor Andreas Rett (siehe auch Beitrag unten), jedoch nicht mehr erleben: er verstarb 1997, zwei Jahre bevor an einer amerikanischen Universität das für die Erkrankung verantwortliche Gen identifiziert wurde.

Es ist wahrscheinlich der hervorragenden Beobachtungsgabe, dem "klinischen Blick" von Rett zu verdanken, dass er das nach ihm benannte Syndrom als solches als erster erkannt und beschrieben hat. "Ein Symptom dieser Erkrankung ist die Verlangsamung des Schädelwachstums zwischen dem fünften Monat und dem vierten Lebensjahr", erklärt Günther Bernert von der Arbeitsgruppe Neuropädiatrie an der Wiener Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde.

Charakteristisch für das Rett-Syndrom ist der Verlust bereits erlernter Handbewegungen, etwa das Greifen nach einem Spielzeug. "Diese Bewegungen verschwinden plötzlich. Anstelle dessen zeigen die betroffenen Kinder stereotype Handbewegungen," so Bernert. Diese können individuell sehr unterschiedlich sein: Typisch sind etwa Waschbewegungen, die Rett auf die richtige Spur gebracht haben. Andere Kinder wiederum zeigen klatschende oder an Flattern erinnernde Handbewegungen. Auch die sprachliche Entwicklung ist verzögert oder fehlt oft gänzlich. Als weitere diagnostische Kriterien gelten eine verminderte intellektuelle Leistungsfähigkeit sowie ein unsicherer, breitbeiniger Gang.

Schon zur Zeit der Entdeckung des Krankheitsbildes lag der Verdacht nahe, dass ein Fehler in den Erbanlagen das Rett-Syndrom auslösen könnte, denn es tritt ausschließlich bei Mädchen auf. Vor etwa einem Jahr gelang es dann der amerikanischen Wissenschafterin Huda Zoghbi am Texas Medical Center in Houston die genaue Ursache zu entschlüsseln. Sie fand bei erkrankten Kindern eine Mutation an einem Gen mit der Bezeichnung MECP2, das am weiblichen X-Chromosom lokalisiert ist. "Es handelt sich dabei um ein besonders wichtiges Gen, das normalerweise die Funktion anderer Gene beeinflusst", erklärt Bernert.

Die Erkrankung ist allerdings keine Erbkrankheit - nur in ganz wenigen Ausnahmen findet man familiäre Häufungen -, sondern die Mutation tritt in der Regel spontan auf. "Es sind bislang keinerlei Risikofaktoren bekannt, auch das Alter der Eltern spielt keine Rolle." Die Häufigkeit der Erkrankung wird auf eins unter 10.000 Geburten geschätzt. In Österreich sind derzeit etwa 60 Mädchen mit Rett-Syndrom bekannt.

Keine Erbkrankheit Obwohl die Erkrankung erst nach einigen Monaten bis eineinhalb Jahren hervortritt, "beginnt der Schaden schon während der Schwangerschaft", so Bernert. "Das Gehirn kann sein Wachstumspotential nicht realisieren." Die Auswirkungen sind eine veränderte Organisation und Architektur der Nervenzellen sowie das Vorkommen abnormer Zellpopulationen an der Hirnrinde. "Bei genauerem Nachfragen lassen sich im Nachhinein meist auch leichte Verzögerungen in der Entwicklung während der ersten Lebensmonate feststellen."

Auch wenn der Gendefekt nun bekannt ist, kann sich Bernert in naher Zukunft keine Möglichkeit der Therapie vorstellen. "Eine solche müsste bereits im Mutterleib stattfinden, wobei zuvor erst die Diagnose gestellt werden muss", so Bernert. Und eine entsprechende pränatale Untersuchung ist heute angesichts des sporadischen Auftretens und der Seltenheit der Erkrankung nicht durchführbar. Das therapeutische Angebot besteht in erster Linie aus Maßnahmen wie Physiotherapie oder Musiktherapie, wobei sich gerade letztere als sehr erfolgreich erwiesen hat. Für viele Kinder und deren Eltern stellen mitunter Ernährungsschwierigkeiten ein großes Problem dar. Manchmal kann es sogar notwendig sein, eine sogenannte Magensonde zu implantieren.

Wie aber gehen die Eltern der betroffenen Kinder mit der schweren Behinderung um? "Nicht anders als alle anderen Eltern behinderter Kinder", meint Bernert. "Der Umgang mit der Erkrankung gelingt ihnen umso besser, je mehr Unterstützung sie erhalten und je eher sie diese auch annehmen."

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