Froschkönig

Meike Stoverocks Buch „Female Choice“: Ein provokatives Feuerwerk

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Die sexuelle Not der Männer ist das Fundament aller Kultur: Meike Stoverocks Buch „Female Choice“ ist ein provokatives Feuerwerk – packend erzählt, aber nur schlecht belegt.

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Die sexuelle Not der Männer ist das Fundament aller Kultur: Meike Stoverocks Buch „Female Choice“ ist ein provokatives Feuerwerk – packend erzählt, aber nur schlecht belegt.

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Der menschlichen Zivilisation liegt ein schmutziges Geheimnis zugrunde. Das vermutete schon Sigmund Freud. In seiner Schrift „Totem und Tabu“ (1913) widmete sich der Pionier der Psychoanalyse seltsamen Phänomenen im Bereich der „Völkerkunde“: magischen Ideen, archaischen Heiratsregeln und elementaren Verboten. Die Geschichte, die er dahinter zu erkennen glaubte, lautet zugespitzt so: Ein potenter Urvater behielt alle Frauen für sich und vertrieb die Söhne, die ihn zugleich bewunderten und hassten, da er ihren Machtansprüchen und sexuellen Bedürfnissen im Wege stand. Daher erschlugen die Brüder den Vater und verzehrten ihn im identitätsstiftenden Mahl. Aufgrund von Schuldbewusstsein und nachträglichem Gehorsam sahen sich die Söhne später jedoch gezwungen, zwei grundlegende Tabus zu etablieren: das Mordverbot und das Inzestverbot. Das, so glaubte Freud, ist die Quelle der Kultur; das Fundament der sozialen Institutionen, der moralischen Regeln und der Religion.

Auch Meike Stoverock vermutet im Buch „Female Choice“ (2021) ein schmutziges Geheimnis, zumindest einen fiesen Trick, eine „bösartige Genialität“, die am Urbeginn aller Zivilisation zu entdecken sei. Auch ihre Geschichte kreist um Sexualität; doch sie klingt anders als bei Freud. Am Anfang stehen die biologisch unterschiedlichen Fortpflanzungsstrategien von Männern und Frauen, also der „sexuelle Konflikt“, der bereits im Tierreich zu beobachten sei und den die deutsche Evolutionsbiologin so auf den Punkt bringt: „Plump ausgedrückt geht das Männchen auf Masse, es versucht möglichst viele Weibchen zu begatten. Das Weibchen geht dagegen auf Klasse und paart sich nur mit dem besten Männchen. Das Männchen muss also viele rumkriegen, das Weibchen viele abwehren.“

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Die Folge: wählerische Weibchen und ein gnadenloser Konkurrenzkampf unter den Männchen, bei dem viele gar nicht zum Zug kommen und ewig leer ausgehen – Charles Darwin nannte das „sexuelle Selektion“, wofür es heute auch genetische Indizien gibt. Die Sprengkraft der „Female Choice“ wird somit deutlich: Sie geht zulasten der Männer. Durchaus nachvollziehbar, dass die frustrierten Männchen dieses System von Grund auf verändern wollten.

Die Chance dazu bot sich, als die Menschen in der Jungsteinzeit begannen, sesshaft zu werden, so die große These von Stoverock. Aus Jägern und Sammlerinnen wurden Hirten und Bauern. Die Landwirtschaft eröffnete allmählich die Möglichkeit, Besitz anzuhäufen. Und indem Männer die Frauen aus der öffentlichen Sphäre ausschlossen, zur Kinderaufzucht vergatterten und ihnen das Recht auf Besitz verweigerten, wurden diese allmählich selbst zum männlichen Besitz.

Der institutionelle Rahmen dafür war rasch zur Hand: Durch die kulturelle Erfindung der Ehe wurden Frauen schließlich in eine umfassende Abhängigkeit gebracht. Für (fast) jeden Topf musste sich fortan ein Deckel finden. All das gab den Männern die Mittel, um „die Ressource Sex fast vollständig zu kontrollieren“, so Stoverock. Und sich, entlastet von der aufwändigen Partnerinnensuche, endlich wichtigeren Aufgaben zu widmen und zahllose zivilisatorische Errungenschaften in die Welt zu bringen. Die Zivilisation ist also „androzentrisch“: Sie wurde von Männern für Männer gemacht. Das hat sogar schon ein alter Macho wie James Brown in einem seiner Soul-Songs eingestanden. Stoverock geht aber noch viel weiter: Die Unterdrückung der Frauen sei „das Fundament, auf dem die heutigen Staaten, politischen Systeme und Kulturkreise stehen“.

Symptome eines epochalen Wandels

Nun ist es unbestritten, dass die männlich geprägte Zivilisation über die Jahrtausende wissenschaftliche Glanzleistungen, geniale Technologien und historisch einzigartigen Wohlstand hervorgebracht hat. Ihre materielle Gier hat allerdings auch dazu geführt, dass man sich um den Planeten bereits ernsthafte Sorgen machen muss: Artensterben, Klimakrise, vielleicht sogar ein Zeitalter der Pandemien dräuen herauf; Corona könnte nur der Auftakt gewesen sein. Aber auch der innerste Kern der androzentrischen Zivilisation scheint bedroht: Frauen haben ein neues Selbstbewusstsein und zunehmende Unabhängigkeit erlangt.

Was Freud in seinen zartesten Anfängen wahrzunehmen begann – der Versuch „des Weibes“, ihre Benachteiligung sprachlos über Symptome zu artikulieren –, ist heute zu einer mächtigen Emanzipationsdynamik geworden, die selbst vor etablierten Sprachregelungen nicht haltmacht. Wird nun auch die „Female Choice“ wieder kulturprägend? „Scheinbar uralte stabile Verhältnisse sind ins Wanken geraten (...) – stark genug, dass unsere Zivilisationsgewissheiten brüchig werden und bestehende Machtverhältnisse zunehmend unter Druck geraten“, bemerkt Stoverock.

Wie schon zuvor Sigmund Freud versucht sich Meike Stoverock an einer triebfixierten Kulturgeschichte – und scheitert ebenso am ethnographischen Befund.

Das Erstarken maskulinistischer Politik, den Zulauf zu islamistischen oder rechtsextremen Gruppierungen, das junge Phänomen der „Incels“ (unfreiwillig zölibatär lebende Männer) sowie den grassierenden Frauenhass im Internet deutet sie als Reaktionen auf einen epochalen Umbruch. Dass viele Leser, aber auch Leserinnen angesichts ihrer Thesen zu Bluthochdruck und Schnappatmung neigen werden, weiß die Autorin, die sich bei provokanten Aussagen mitunter vorbeugend an ihr Publikum wendet. Das gilt umso mehr für ihre gesellschaftspolitischen Folgerungen, geprägt vom Feldzug gegen die Ehe und die frauenfeindlichen monotheistischen Religionen – sowie dem Nachdenken darüber, wie man Prostitution und Pornographie salonfähig machen könnte.

Neigung zur Privatmythologie

Wie tragfähig aber sind diese Thesen aus wissenschaftlicher Sicht? Mit ihrer Argumentation wagt die Autorin einen tollkühnen Sprung aus dem Tierreich in den kulturellen Kosmos des Menschen. Dem Auswerten biologischer Befunde folgt die Deutung kulturhistorischer Quellen. Vieles in diesem gigantischen Bogen ist wenig differenziert, empirisch kaum belegt und nicht durch Literaturhinweise ausgeschildert. Etliche Ausführungen über Einstellungen oder Verhaltensweisen gleiten somit ab in den Bereich von Privatmythologie und sexuellem Kaffeehausklatsch.

Ein kritischer Punkt für Stoverocks Thesen liegt in den Jäger- und Sammlerinnengesellschaften, die nicht von der Zivilisation erfasst wurden und den nomadischen Lebensstil der Altsteinzeit weitgehend beibehalten haben. Die somit also noch nach dem Prinzip der „Female Choice“ leben müssten, sofern dieses tatsächlich ein universelles, biologisch fundiertes Grundprinzip ist. Ist es aber nicht, wie die anthropologische Forschung zeigt. Damit stürzt die Theorie zusammen.

Wie schon Sigmund Freud versucht sich Meike Stoverock an einer triebfixierten Kulturgeschichte – und scheitert am ethnographischen Befund, der mehr beleuchten müsste als nur die indigenen San im südlichen Afrika. Das ändert nichts daran, dass sie ein wichtiges populärwissenschaftliches Buch geschrieben hat. Dieses fällt zwar eher ins Genre der Science-Fiction, ist aber so packend erzählt wie ein Krimi, den man auf keinen Fall missen sollte.

HINWEIS: Die FURCHE-Ausgabe, in der dieser Beitrag erschienen ist, war dem Thema „Frau sein“ gewidmet. Als Einladung zum Perspektivenwechsel wurde bei im Text erwähnten Personengruppen grundsätzlich die weibliche Form verwendet.

Lesen Sie auch:

Female Choice Cover - © Tropen 2021
© Tropen 2021
Buch

Female Choice

Vom Anfang und Ende der männlichen Zivilisation
Von Meike Stoverock
Tropen 2021
352 S., geb., € 22,70

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