Eingefrorene Momente

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Der Îvre-Katalog macht das Werk des großen Verwirrkünstlers Balthus überblickbar.

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Der Îvre-Katalog macht das Werk des großen Verwirrkünstlers Balthus überblickbar.

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Balthus hat gern seine Spuren verwischt, Verwirrung gestiftet, sich als Geheimnisumwitterter stilisiert und seine Exklusivität kultiviert. Viele Jahre lang entstanden sechs bis sieben größere Bilder pro Jahr, die ihm von den Kennern von der Staffelei gerissen wurden - trotz der phantastischen Preise, die er forderte. Aber auch seine Bilder sind voll von Geheimnissen, zum Beispiel seine in vielen Varianten gemalten Straßenbilder: Bilder einer eingefrorenen Welt, der Welt von 1820 bis 1840, wie Jean Clair meint, gemalt ein Jahrhundert später. Seltsam starr, puppenhaft, oft verrenkt wirken die Figuren, manche sind deformiert, die Bilder voll von Irritationen. In der "Passage du Commerce-Saint-Andre" hockt dem spielenden Kind gegenüber ein glatzköpfiger Zwerg auf dem Gehsteig, auf einem anderen Bild ist das Kind auf dem Arm einer Frau ein Mann. Nirgends bei Balthus finden wir irgend ein Attribut des 20. Jahrhunderts.

Breitenwirkung, Popularität seiner Kunst, hat er mit allen Mitteln verhindert. Doch für eine kleine, aber erlesene Schar von Verehrern und Sammlern ist er der größte lebende Maler überhaupt. Er macht es ihnen nicht leicht. Sein Verwirrspiel ging so weit, daß er eingestand, etliche Male seinen Namenszug oder sein Monogramm auf fremden Zeichnungen angebracht zu haben. Dafür signierte er garantiert eigenhändige Blätter mitunter auf eher dubiose Weise.

Er hieß Baltusz Klossowski de Rola und stammte, mehr oder weniger aristokratisch oder auch nicht, auch diese Unklarheit war Teil seines Verwirrspiels, aus einer reichen polnisch-russischen Familie. Ein solches Îvre zu katalogisieren, erfordert jahrelange Recherchen. Nun ist es doch gelungen: "Balthus - Catalogue raisonne: Das Gesamtwerk" von Virginie Monnier unter der wissenschaftlichen Leitung von Jean Clair. 349 Gemälde, 1.112 Zeichnungen, Illustrationen literarischer Bücher, alle bekannten Skizzenbücher und die Bühnenbilder für sieben Opern- und Theaterinszenierungen werden mit detaillierten Angaben aufgelistet. Der einleitende Essay von Jean Clair, "Der hundertjährige Schlaf", sowie der Apparat wurden ins Deutsche übersetzt, der Katalog selbst aber in französischer Sprache in die deutsche Ausgabe übernommen, um den Preis des ohnehin teuren Werks nicht explodieren zu lassen. Angesichts der vielen typisierten Angaben ist dies verschmerzbar.

Ein häufiges Thema sind Landschaften, ein anderes junge Mädchen, nackt oder bekleidet, die er immer wieder malt. So zeitfern die Umgebung ist, in die er sie stellt, so flüchtig sind die Augenblicke, die er festhält, die labilen Posen, in denen er sie so gerne malt, und das Stadium, in dem er sie festhält. Es ist die kindliche Anmut unmittelbar vor dem "Eintritt in das undankbare, schwerfällige und linkische Jugendalter" (Clair), etwa im Bild "Therese auf einer Bank". Auch die beiden Frauen, mit denen Balthus zusammenlebte, waren (beziehungsweise sind) um Jahrzehnte jünger als er. Da wirkt es geradezu symbolträchtig, daß der 1908 in Paris geborene Maler am 29. Februar 2000 seinen 23. Geburtstag feiert. Im wahrsten Sinn des Wortes: Da er nun einmal am Schalttag zur Welt gekommen war, weigerte er sich, mit dem 28. Februar oder dem 1. März vorliebzunehmen. Geburtstagsfeiern im Hause Balthus fanden konsequent nur alle vier Jahre statt.

Balthus ist auf der Suche nach seiner zwischen übermächtigen, obendrein bedeutenden Erwachsenen verbrachten Kindheit. Die Mutter war mit Rainer Maria Rilke befreundet. Balthus stammt aus einer Malerfamilie, aber es war Rilke, der ihm entscheidende Anstöße gab. Auf einer Fotografie wirkt der 14-jährige zwischen dem Dichter und der Mutter Baladine Klossowska frühreif und zugleich etwas verloren. Er legt gerne einen unsichtbaren Schleier, eine Glaswand zwischen Bild und Beschauer, manche Bilder vermitteln ein Guckkasten-, ein Voyeurgefühl. Daß er damit eine Absicht verfolgte, geht aus technischen Maßnahmen hervor, die ebenfalls der Distanzierung dienten. Ende der fünfziger Jahre experimentierte er mit schwierig zu handhabenden Mischungen von Gips mit Kasein und Tempera- mit Ölfarbe, womit er eine freskoartige, matte, körnige Oberfläche erzielte, sich aber auch selbst zu einem zeitraubenden, durchdachten Aufbau der Farbschichten zwang, der jede Spontaneität ausschloß.

Balthus' Großvater hatte einen erheblichen Teil seines Grundbesitzes an Bauern verschenkt. Der Enkel nannte sich zunächst Baltus, änderte aber seinen Künstlernamen, als er von der Existenz des belgischen Malers Jean Baltus erfuhr, in Balthus. In seinen frühen Jahren hat er seine Zeichnungen kaum signiert. In vielen Fällen brachte er seinen Namenszug Jahrzehnte später nachträglich an. Er ist jener Maler des 20. Jahrhunderts, der niemals von der Gegenständlichkeit abwich, dabei aber von den Großen der Moderne als gleichwertig, als einer der Ihren anerkannt wurde. Zu Picasso, der ihm ein Hauptwerk abkaufte, "Les Enfants Blanchard", bestand eine besonders starke Beziehung. In den sichtlich gerade von der Schule heimgekehrten "Blanchard-Kindern" wird das Einfangen des verlorenen Kindheits-Augenblicks besonders deutlich. Während sich der Knabe noch über Sessel und Tisch hinlümmelt und offenbar seinen Gedanken nachhängend alles weitere hinausschiebt, hat sich das Mädchen bereits auf dem Fußboden auf ein Buch gestürzt. Auf einem Foto des Jahres 1948 scheint Albert Camus im Theatre Marigny nicht ganz einverstanden mit dem, was der Theatermann Jean-Louis Barrault gerade zu ihm sagt. Dahinter Balthus, der das Bühnenbild für Camus' "Belagerungszustand" entworfen hat: Ein scharfes, angespanntes Gesicht mit der Zigarette zwischen den schmalen Lippen. Auch dies so ein für alle Zeit eingefangener, eingefrorener Moment eines Lebens.

Nun kann man Balthus' Lebenswerk bis in die kleinsten Verästelungen verfolgen und seine Entwicklung nachvollziehen. Mit minimalen Ausnahmen ist jede Arbeit, auch das beiläufigste Blättchen, mit einem Schwarzweißbild dokumentiert.

Balthus - Catalogue raisonne -Das Gesamtwerk. Von Virginie Monnier und Jean Clair Schirmer/Mosel, München 2000. 576 Seiten, 81 Farbtafeln, 2.200 Abbildungen, Ln., öS 2.906,-/E 211,19

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