Gier und Glaubenssucht

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Dimiter Gotscheffs fulminater "Tartuffe" bei den Salzburger Festspielen.

Die 1664 uraufgeführte und umgehend verbotene Komödie Tartuffe ou L'hypocrite gehört zu jenen klassischen Meisterwerken, auf denen der Ruhm von Moliére beruht. Für ihn galt das Stück - das nach den ,Querelles du Tartuffe' Tartuffe ou L'imposteur (Betrüger) hieß - als exemplarisches Beispiel eines gesellschaftlich engagierten, ,politischen' Theaters.

Während das zeitgenössische Publikum in dem Stück ein Symbol des Widerstandes vor allem gegen klerikale Unterdrückung sah, klagte Molière mit der Geschichte um den parasitären Heuchler und Betrüger Tartuffe, der sich zum Zwecke der persönlichen Bereicherung in eine wohlhabende Familie einschleicht, unter dem Deckmantel der Frömmigkeit einen religiösen Lebenswandel vortäuscht und so die Gunst, bald die Tochter und schließlich das gesamte Vermögen des tumben Hausherrn erschleicht, nicht nur bestimmte politische Cliquen seiner Zeit an, sondern er beklagte auch die gesellschaftlichen Zwänge, aus denen heraus das Verhalten der Heuchelei erzwungen wurde. Freilich hat sich der gesellschaftspolitische Horizont und auch das religiöse Feld seither beträchtlich verändert, sind wir doch längst in das Zeitalter eines säkularisierten Polytheismus mit einer Vielzahl von Wertorientierungen, religiösen und halb-religiösen Sinnbestimmungen eingetreten.

Erstaunlich und spannend ist, was der bulgarische Regisseur Dimiter Gotscheff und sein hervorragend disponiertes Ensemble des Hamburger Thalia Theaters dem Stoff an zeitgenössischer Wirklichkeit zu entlocken vermögen. Schon Katrin Bracks Bühne zeigt an, was Pernelle (Angelika Thomas) im Unheilston verkündet: "Die Menschen sind entleert von Sinn." Tatsächlich stellt Gotscheffs fulminante, im Brecht'schen Sinne zeigende und durch Texte aus der Bibel, von Heiner Müller, Cicero, Lao-Tse und Christian Morgenstern ergänzten Inszenierung Fragen nach der inneren Verfassung der Gesellschaft in der Epoche des Verlustes religiöser Wahrheiten und utopischer Gesellschaftsmodelle. Hier ist das Fest vorbei, es herrscht Katerstimmung.

Die Leere der Welt

Gotscheff zeichnet ein grelles Porträt einer Gesellschaft, deren Verbindendes einzig noch subjektivistische Exzesse sind: die Gier nach Besitz, als könne er die innere Leere füllen, sowie zügellose Triebbefriedigung - in der Hoffnung, der Langeweile für einige Augenblicke zu entkommen. Tartuffe (Norman Hacker) ist hier keine negative Figur, weder als Heuchler noch als Betrüger oder gar als das Böse erkennbar. Fast scheint sein religiöser Eifer echt und einer unbewussten Autosuggestion zu dienen, um der Leere der Welt nicht gewahr zu werden. In einer solch regellosen Welt steht sein sexuelles Verlangen nach Orgons Frau, der verführerischen Elmire (Paula Dombrowski) auch in keinem Widerspruch. Hier wie da zeigt Gotscheff die Suche nach wahrer Erfüllung.

Auch die Figur des Orgon liest Gotscheff kräftig gegen den Strich. Peter Jordan zeigt und spricht (wie überhaupt man in dieser Inszenierung gut auf die Töne hören muss!) ihn als einen verzweifelt nach höherem Sinn und Orientierung Dürstenden, der für die Sinnangebote nur allzu empfänglich ist. Er ist weniger der einfältig Gutgläubige als ein Revoltierender gegen das postmoderne Leben, in dem die metaphysische Sehnsucht noch nicht erloschen ist. Er ist wie Tartuffe: Getriebener weniger vom Glauben als vom Willen zum Glauben.

Die übrigen Familienmitglieder, durch die Verhältnisse verdorben, werden in einer grotesken Blödigkeit vorgeführt: Mariane (Anna Blomeier) und ihr Verlobter Valère (Ole Lagerpusch), einander entfremdet bevor sie sich je hatten, Damis (Andreas Döhler) als lallender, sprachautistischer Halbwaise - wie alle eigentlich von einer epidemischen Sprachlosigkeit erfasst scheinen, die Bedürfnisse weder erkennen, geschweige denn benennen kann.

Gotscheffs großartige Interpretation der Komödie endet resignativ: er rettet das Individuum nicht in eine gesellschaftliche Handlungsfähigkeit. So scheitert der Plan, Tartuffe zu überführen am subjektivistischen Glauben Elmires, für sich doch noch Einzigartigkeit herzustellen.

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