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Kulturpolitik und Politik auf dem Theater

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Ein reines, ungetrübtes Vergnügen: das Gastspiel der Comedie Fran-c a i s e in Wien. Wir dürfen uns glücklich schätzen, daß diesmal die Wahl auf Molieres „Tartuffe“ fiel. Der Ahnherr und Begründer der Comedie setzt hier die Sonde an den innersten Kern des Menschen an — und siehe, er enthüllt sie wie die Zwiebelseele des mythischen Knopfgießers in Peer Gynt als ein Blätterwerk falscher Wechsel. Wer ist dieser frömmelnde Heuchler Tartuffe? Ist er nur ein Abbild, ein Zerrbild zweideutiger Frömmigkeitsvereine um die Mitte des 17. Jahrhunderts oder ein Symbol der „Scheinheiligkeit“ schlechdiin? Nein, er ist mehr, viel mehr: etwas von der tragischen Zwittrigkeit des „Idealisten“, des „Minnesängers“, des „Poeten“, des Programmatikers, also jedes Menschen, der hohe Dinge zu verkündigen und daneben — ach, daneben!

— ein menschliches Leben zu leben hat, wird, sichtbar in diesem Tartuffe Yonnels. Dieser Tartuffe lebt sein Doppelleben voll und ganz aus. Seine Seele hüpft, ein nächtlich schweifender Vogel, leidenschaftlich girrend zwischen den Ästen des Baumes der Erkenntnis herum: gut oder böse, wahr oder falsch

— wessen ist diese Tat und jene Gebärde — des Lügners oder des Gerechten? Eine durchaus m metaphysische Bezüge hinabreichende Gestalt also. Das große, klassische französische Theater, als dessen Grenzfall Molieres „Tartuffe“ erscheint, verwehrt jedoch dem Metaphysischen den Zugang auf die Bühne, es stellt in dieser Hinsicht den großen Kontrapunkt des spanischen und englischen Theaters dar: hier auf der erhöhten Plattform der Gesellschaft soll Nur-Menschliches in reiner Darstellung geklärt und verklärt werden! Die Comedie muß deshalb ihre ganze Kunst aufbieten, um diesen in tiefere und ihr wesensfremde Gründe auszubrechen drohenden Tartuffe einzufangen in ihre Atmosphäre, ihre Weltsphäre! Großartig, wie dies dem Ensemble gelingt. Mit tausend seidenen Fäden umspinnt es, wie eine Zauberspinne, Tartuffe und hüllt ihn ein in Hoffen und Zagen, Weinen und Fluchen, Händeringen und Still-sich-Bescheiden der Familie des braven Bürgers Orgon! Kein Zoll an Tartuffe, der nicht dergestalt eingebunden, verschlungen und umfangen wird vom Feuerwerk dieser sehr menschlichen, sehr humanen Melodramatik. Das Wiener Publikum hat hier also Gelegenheit, zwei völlig gegensätzliche Theaterstile zu studieren, wenn es dieser Tartuffe-Aufführung etwa eine Klassikerdarstellung des Burgtheaters vergleicht. Die Schauspieler der Burg spielen ihre Rolle (böse Zungen sagen: Sie spielen immer wieder nur sich selbst) — .sie reichen behäbig-schwer, ernst-gravitätisch, voll Würde und, wenn es gut geht, auch mit Substanz, sozusagen an der Spitze langer Fahnenwimpel, zumindest auf schwer silberner Servierplatte ihre Worte und Taten des Partner, dem Auch-Mitspielenden. Statisch statuarische Größe des hohen Barocks. Ganz anders die Com^die: hier spielt Jeder in Jedem, jedes Wort, jede Geste erfüllt sich erst im Zusammenklang, im Mitspieler, nein, im Spiel des Ganzen! Bewegtes Wellenspiel, Musik! Die Stadt, welche als Herz europäischer Musikpflege gilt, kann dergestalt Erstaunliches lernen von der ersten Bühne eines Landes, dessen Größe seit jeher dem Wort, der akzentuierten Rede verbunden ist: die Spredibäline als Fest der Musik, als musikalische Veranstaltung.

Das Deutsche VoIkstheateY bringt eine Komödie von J. P etro w. „Die Insel des Friedens“. Ein anglo-amerikanisches Ehepaar, in London beheimatet, beschließt 1938, nicht ohne heftige Gegenwehr zahlreicher Familienmitglieder, nach einer fernen Insel im Stillen Ozean zu übersiedeln — bis die kommenden Auseinandersetzungen der Weltmächte vorbei sind. Auf Wunsch des Mr. Jacobs senior. Dieser erscheint im ersten Akt als liebenswürdiger, um das Wohl seiner , Familie besorgter Hausvater, als Pazifist und Christ. Sie finden die Insel, jedoch nicht den Frieden. Eine aufbrechende Ölfontäne ruft die, Kriegsschiffe der Westmächte herbei und enthüllt die Mensdien dieser angelsächsischen Hemisphäre als Statisten im mörderischen Kampfspiel des Kapitalismus und Imperialismus. Geld und Machtgier, Heuchelei — als „Christentum“ verbrämt —, zynische Gemeinheit beherrschen nun diese wohlerzogene

Gesellschaft. Schade: im ersten Akt durften sie noch Menschen sein. Nun sind sie nur mehr hart gezirkelte, konstruierte Beweismaterialien für die These des Autors: die westliche Gesellschaft besteht vom Unternehmer bis zum Angestellten, Priester und Arzt, von der Mutter bis zum Kind nur aus sehr zielstrebigen Machtmenschen, zu denen sich etliche in ihrer Schwäche wenig liebenswerte Narren und Närrinnen gesellen. Ein Lehrstück des „kalten Krieges“ also, ein russisches Propagandastück zur Demaskierung des englischen und amerikanischen Imperialismus. Die Wiener, die morgens aus der Zeitung, mittags aus den Kalorien ihres Mahles, nachmittags im Radio von den Streitigkeiten der Alliierten erfahren, haben also nunmehr auch Gelegenheit, diese kostbare Erkenntnis abends im Theater zu vertiefen. Um das Stück der Illusionsmalerei der Bühne zu entkleiden, um es ganz in die Realistik des politischen Welttheaters hineinzustellen, wird es durch Ausschnitte aus Film Wochenschauen geziert: Bomben rauschen durch die Nacht, Soldaten marschieren ...

Nicht auszudenken, wenn dies Beispiel Schule macht: Der Gerechtigkeit halber müssen wir dann vier Staatstheater gründen, die jeder der vier Besatzungsmächte Gelegenheit geben, ihre Stücke gegen die befreundeten Mächte aufführen zu lassen.

Bis jetzt aber haben wir schon an einem genug...

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