Gottes Reich auf Erden

19451960198020002020

Thema: Gottes Gericht

19451960198020002020

Thema: Gottes Gericht

Werbung
Werbung
Werbung

Jean-Jacques Rousseau hat einmal formuliert: „Zwischen dem Schwachen und dem Starken ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit. Für Juden hat Gottes Gerechtigkeit etwas so Befreiendes.

An die biblische Mahnung „Beachtet meine Gesetze und meine Rechte, durch die der Mensch, wenn er sie ausübt, ewiges Leben erhält“ (Lev 18,5) knüpfte ein Rechtsgelehrter die Bemerkung, dass die Anwendung des Rechts zum Leben führen soll, nicht aber zum Untergang (bT Sanh 74a). So enthalten die Bestimmungen über die Arbeiter und den Arbeitsvertrag sowie über das Darlehen, das Pfandrecht und das Erlassjahr (schemitta) eine Fülle von sozialen Gedanken, die die Tendenz zeigen, bei Interessenkollisionen einen Ausgleich zugunsten der wirtschaftlich Schwachen herbeizuführen. Dieser Sinn für soziale Gerechtigkeit wurde von den Propheten weitergeführt. Später hat der Talmud das Recht in diesem Geiste erweitert und einer neuen Zeit je angepasst. Alle Menschen sind in gleicher Weise dem religiösen Recht unterworfen.

Bei alldem gilt: Einmal dem Volk gegeben, ist das Recht, auch wenn es göttliches Recht ist, sozusagen auch Gott selbst entzogen. So wurde einem Rechtslehrer, der sich in einem Rechtsstreit auf eine übernatürliche Stimme berufen wollte, erwidert: „Das Gesetz ist nicht im Himmel.“ Mit anderen Worten: Die Wirklichkeit des Jüdischen Rechts ist göttlich, aber sie ist keine tora min ha-schamajim, keine Tora vom Himmel. Durch den Menschen allein soll es verwirklicht werden.

Als grundlegende Einsicht steht die ethisch-sittliche Aufgabe der Jüdinnen und Juden im Zentrum, sich in einem stetigen Prozess der Läuterung Gottes Anforderungen zu stellen und sein Reich auf Erden Wirklichkeit werden zu lassen. Gerechtigkeit ist demgemäß die Gnadengabe Gottes, mit der er die Welt nach seinem Willen ordnet.

* Der Autor ist Rabbiner und leitet das Abraham-Geiger-Kolleg/Berlin

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung