Image, Einkommen und Prestige polieren

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Unter der Regie von Rudolf Frey hatte das Singspiel "Das Gemeindekind" nach dem gleichnamigen Roman von Marie von Ebner-Eschenbach am Wiener Schauspielhaus Premiere. Überzeugen konnte das sozialkritische Stück weder szenisch noch darstellerisch.

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Unter der Regie von Rudolf Frey hatte das Singspiel "Das Gemeindekind" nach dem gleichnamigen Roman von Marie von Ebner-Eschenbach am Wiener Schauspielhaus Premiere. Überzeugen konnte das sozialkritische Stück weder szenisch noch darstellerisch.

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Andreas Becks, künstlerischer Leiter des Schauspielhauses, letzte Premiere vor dem Weggang nach Basel widmet sich einem Klassiker: Marie von Ebner-Eschenbachs Sozialroman "Das Gemeindekind" zählt zu den wichtigsten Texten der österreichischen Autorin. Der Name Ebner-Eschenbach dient hier als Marketing-Strategie, denn was ihre Literatur ausmacht, hat mit dem Singspiel am Wiener Schauspielhaus wenig zu tun.

Es wäre eine gute Chance gewesen, das Bild der literaturgeschichtlich kanonisierten Autorin zurechtzurücken, die zumeist nur auf die in Schulen gelesene Novelle "Krambambuli" - und hier auf die rührselige Hundegeschichte -reduziert wird. Im "Gemeindekind" hat Ebner-Eschenbach hingegen ein kritisches und modernes Bild auf die Gesellschaft der Epoche Kaiser Franz Josephs - mit dem sie die Lebensdaten teilt - geworfen.

Die Geschichte ist deshalb spannend, weil sie nicht nur die Atmosphäre einer Gesellschaft erfasst, sondern auch Brüchigkeit und Aufbruchstimmung dieser Zeitspanne. Präzise und fesselnd beschreibt sie das Milieu im tschechischen Dorf, wo die von ihren Eltern allein gelassenen Kinder Pavel und Milada kaltherzigen Entscheidungsträgern ausgeliefert sind. Exzellent zeichnet Ebner-Eschenbach die sozialen und psychologischen Strukturen. Sie etabliert atmosphärisch dichte Bilder, etwa wenn sie das verstörte Kind Pavel vorstellt, der in abgehackten Sätzen spricht, oder den Dorflehrer, der statt pädagogischer Stärke nur Schläge und Drohungen parat hat, sich aber dann als Mutmacher für Pavel zeigt.

Heuchlerische Gutmenschen

Aspekte davon haben Autorin Anne Habermehl und Regisseur Rudolf Frey übernommen: Thiemo Strutzenberger, der in ihrer Bearbeitung den 15-jährigen Pavel gibt, verfügt über keine Sprache. Seine Sätze klingen holprig, auswendig gelernt und stark manieriert. Nachdem Pavels Mutter, die nach dem Fall der Mauer aus dem Osten zugewandert ist, in U-Haft kommt, ist der Knabe vollkommen allein. Die Frauen der Gemeinde wollen ihm helfen, oder besser: ihr Einkommen aufbessern. Sie nehmen ihn als Pflegekind und kassieren die Unterstützung. Für Liebe, Zuneigung und echte Fürsorge ist kein Platz. Die nach außen sich hilfsbereit gebenden Christen und Sozialisten wollen nur ihr Image und ihr Einkommen aufpolieren. Um den Buben geht es am allerwenigsten. Er begreift seine Situation und wirft die heuchlerischen Gutmenschen auf sich selbst zurück: Sie verwechseln Fragen mit Antworten, konstatiert er. Sie wissen ohnehin schon alles.

Habermehls Libretto spielt im Jetzt, Motive aus der Romanvorlage sind angesichts der Situation vieler Straßenkinder in der Welt hochaktuell. "Was für eine Sozialgemeinde soll das sein, die sich um die wahren Parias nicht schert?", ist die entscheidende Frage der Lehrerin. "Wir lassen Menschen vor Bankfilialen und Supermärkten verrecken." Wie Ebner-Eschenbach haben auch Anne Habermehl und der Komponist Gerald Resch ein Anliegen: Sie appellieren für ein persönliches und gesellschaftliches Besserwerden.

Szenisch und darstellerisch überzeugt die Umsetzung kaum. Die Schauspieler, hier zugleich auch gesanglich Interpreten der Musik, bleiben hölzern. Jeder Figur ist ein Instrument zugeordnet, die Gitarre dem Jugendlichen Pavel, die Lehrerin wird vom sachlichen Klavier dominiert, das Akkordeon betont die katholische Virgilova, Kontrabass und die erotisch klingende Klarinette ergänzen das Ensemble.

Hohl und konstruiert

Die Idee erinnert an Prokofjews "Peter und der Wolf", nur dass die Konsequenz der Verbindung von Musik und Figur am Schauspielhaus nicht funktioniert. Zur Identifizierung hilft die permanente Anwesenheit des Instrumentalensembles auf der Bühne. Immer wieder kehren die Figuren zu ihrem Instrument zurück, um die Symmetrie in Erinnerung zu rufen. Die Szenen aber bleiben seltsam hohl und konstruiert, etwa wenn sich Pavel in ein leeres Kino flüchtet, Metapher der disparaten Welt. Großes Kino, leeres Konto und umgekehrt, will uns diese Produktion sagen, die vielen Ideen folgt -und zu keinem Ganzen kommt.

Das Gemeindekind Schauspielhaus, 20., 21., 31. März, 1., 10. April

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