Schicksal der Erinnerung

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Zu Pfingsten war ich in Sotto-il-Monte. Dort, am Fuß der Bergamasker Alpen, ist Angelo Roncalli auf die Welt gekommen: Bauernbub, Seminarist, Priester, Bischof, Nuntius, Patriarch, Papst. Gezeigt wird sein Geburtshaus, Touristen tummeln sich, wo dazumal Hühner und Schweine den Hof bevölkerten; die Wiese hinter dem Haus musste einem weiträumigen Andachtsgebäude weichen, denn man darf den Konzilspapst verehren, er ist ja selig, seit fünf Jahren. Seine Bronzestatue ist abgegriffen wie der Fuß des heiligen Petrus im römischen Petersdom.

Nicht weit davon wohnt in einer prächtigen Villa jene Schwesterngemeinschaft, die den Haushalt des Papstes geführt hatte. Die Zimmerfluchten sind mit Vitrinen vollgestellt, in denen alles ausgestellt wird, was dem Papst aus dem Dorf jemals geschenkt wurde und gehörte. Stolz zeigt eine Schwester das Bett, darin der Papst - nein, nicht gestorben ist, nicht in diesem Bettgestell - aber die Matratze ist echt, auf ihr hat er tatsächlich seinen letzten Atemzug getan.

In einem Seitenflügel der Villa wohnt Loris Capovilla, der Sekretär Johannes' XXIII. Er ist neunzig und lebhaft wie ein Vierzigjähriger. Seine Versuche, den örtlichen Papstkult mit Inhalten zu versehen, sind am Widerstand der amtierenden Bischöfe gescheitert. Den Pilgern und Touristen nicht nur freundliche Anekdoten zu servieren, sondern das, was er gedacht hat, was ihn das Konzil anzetteln ließ, ist nicht opportun. Er hat genug Unruhe gestiftet. Jetzt, als Seliger, ist er ganz offiziell zum Wohlverhalten verpflichtet.

Im Jahr des Gedenkens ist Sotto-il-Monte ein Exempel. Erinnerungen haben ihre Schicksale. Erinnerung ist gefährlich, postulierte J. B. Metz. Aber wo eine Matratze ist, gibt es einen Ausweg. Die Reliquien von gestern zu verehren, schützt verlässlich vor der Zukunft.

Der Autor ist freier Journalist.

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