Sich neu erfinden, nicht erstarren

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Thema: Religionskritik

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Thema: Religionskritik

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Äußere Kritik an der jüdischen Religion ist seit Jahrtausenden eine traurige Begleiterscheinung jüdischer Existenz. Gerade die christliche Theologie zeichnete nur zu oft ein schwarzes Bild vom Judentum: als einem vergangenen Phänomen, einer verblühten Liebe Gottes. Es war dieser düstere Hintergrund jüdischer Verstockung, der es dem Christentum ermöglichen sollte, sich selbst leuchtend abzuheben. Religiöser und rassischer Antisemitismus waren die Folge. Viel Schlechtes ist daraus erwachsen, nicht nur an Diskriminierung und Verfolgung. Religionskritik war für das Judentum also keineswegs bloß eine intellektuelle Erscheinung. Religionskritik führte regelmäßig zu geistiger und körperlicher Verletzung und zu gewaltsamem Tod ganzer Gemeinden, ja ganzer Generationen.

Aber man kann Religionskritik auch innerjüdisch auffassen. Historische Umwälzungen fanden gewöhnlich ihren Niederschlag in einer entsprechenden intellektuellen und akademischen Entwicklung innerhalb der jüdischen Gemeinschaft selbst. Die große Leistung des Judentums ist es, sich immer wieder selbst neu erfunden zu haben und nicht zu erstarren. Franz Rosenzweig meinte gerade in dieser Wandelbarkeit die Berufung des jüdischen Volkes als Gottes Offenbarung zu erkennen. Jeder Generation gelang es, einen Neuansatz zur Definition jüdischer Identität anzubieten und damit Religionskritik von innen zu leisten. Seit der Aufklärung ist dies Aufgabe der „Wissenschaft des Judentums“. Leopold Zunz legte dafür mit seinem 1832 erschienenen Buch „Die gottesdienstlichen Vorträge der Juden historisch entwickelt“ den Grundstein. Er brachte Belege für einen „evolutionären Prozess“ in der Geschichte des Judentums und schuf so das wissenschaftliche Fundament für die Einsicht, dass Wandel von jeher die Möglichkeit von Kontinuität ist.

* Der Autor ist Rektor des Abraham-Geiger-Kollegs in Potsdam

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