Weh der Inszenierung, die lügt!

19451960198020002020

Martin Kusej ließ am Wiener Burgtheater Franz Grillparzers "Weh dem, der lügt!" statt als Lustspiel als Tragödie enden.

19451960198020002020

Martin Kusej ließ am Wiener Burgtheater Franz Grillparzers "Weh dem, der lügt!" statt als Lustspiel als Tragödie enden.

Werbung
Werbung
Werbung

Der Strich durch die erste Hälfte des Wortes "Lustspiel" verrät es schon: Martin Kusej nähert sich am Wiener Burgtheater Franz Grillparzers "Weh dem, der lügt!" nicht nur von der heiteren Seite. Vielleicht fanden schon Grillparzers Zeitgenossen das Werk gar nicht so lustig, denn bei der Uraufführung 1838 fiel es durch, und der gekränkte Autor vertraute daraufhin seine weiteren Dramen keinem Theater mehr an. Wahrscheinlich hätte er auch Martin Kusej dieses Stück nicht anvertraut, wenn er gewußt hätte, was dieser Regisseur daraus macht. Vom bei Grillparzer-Stücken bisher oft üblichen Besuch der Aufführung mit Kindern oder mit Schulklassen, die Grillparzers Stück pur kennenlernen sollen, ist jedenfalls abzuraten.

Die Handlung ist simpel und weithin bekannt. Leon, Küchenjunge bei Bischof Gregor von Chalons, macht sich auf, den Neffen seines Herrn, den bei Graf Kattwald im Rheingau in heidnischer Gefangenschaft schmachtenden Atalus, zu befreien. Dabei gelingt es ihm, des Bischofs Mahnung "Weh dem, der lügt!" zu beherzigen und mit entwaffnender Offenheit alle Hindernisse zu überwinden. Den flüchtigen Christen schließt sich Kattwalds Tochter Edrita, die sich in Leon verliebt hat und ihrem Bräutigam Galomir entkommen will, an. Von den Verfolgern schließlich gestellt, rettet nur ein "Wunder" die Flüchtlinge vor dem Tod - aus der Festung Metz, die erst in der Nacht davor an die christlichen Franken gefallen ist, erhalten sie Hilfe. Dem Happy-End - Leon darf Edrita, die Christin werden will, heiraten, die Heiden bekommen freien Abzug - steht nichts mehr im Wege.

Ein solcher Ausgang ist Kusej zu harmlos, er braut mit Hilfe von Grillparzer-Zitaten aus anderem Kontext ein böses Ende zusammen: Atalus metzelt die Heiden nieder und beschmiert sich mit deren Blut, die Wahrheitsliebe des frommen Bischofs ist zum militanten Fanatismus geworden, in dem sich Kreuzzüge und Inquisition, Hexenjagd und Ketzerverfolgung widerspiegeln. Doch das Schlußbild mit dem einsam-ratlos dastehenden Paar Leon und Edrita im Vordergrund deutet an: Die Liebe kann - und muß letztlich - stärker als eine zum Machtmittel verkommene Wahrheit sein.

So hat die vom Premierenpublikum und der Kritik mehrheitlich bejubelte Inszenierung zwei Seiten: Sie zieht einerseits schlüssig mit allen Registern des modernen Regietheaters, aber auch etlichen scheinbar unentbehrlichen Mätzchen - so müssen in einer Szene wieder völlig unnötig alle Statisten nackt agieren -, eindrucksvoll ihre Aussage von der Relativität und der Mißbrauchbarkeit der Wahrheit durch. Doch sie zerstört anderseits die tiefe Humanität des Stückes. Das Ausspielen der Szene, wo das Grillparzersche Lustspiel zum Trauerspiel kippen könnte, ist legitim, doch der unversöhnliche Schluß, mag er auch mehr dem wirklichen Leben entsprechen, ist trotz allem ein Betrug am Autor, der mit dem Stück ja gerade einen idealistischen Kontrapunkt zur Realität setzen wollte. In diesem Sinn wäre es auch ein Betrug, beispielsweise Lessings "Nathan" oder Goethes "Iphigenie" tragisch ausgehen zu lassen. Weh dem Regisseur, der lügt!

Die Begeisterung der Kritik für Martin Zehetgrubers fast biedermeierliches Bühnenbild und Heide Kastlers Kostüme muß man nicht teilen, aber unbestreitbar sind Kusej einige starke Bilder gelungen. Und völlig außer Zweifel stehen die schauspielerischen Leistungen, ob von Martin Schwab (Gregor), Stefan Wieland (Atalus), Florentin Groll (Kattwald), Dieter Witting (Hausverwalter), Heinz Frölich (Pilger) oder Bruno Thost (Schaffer Kattwalds). Besonders hervorgehoben gehören jedoch unbedingt Werner Wölbern (Leon) und mit etwas Abstand Katharina Schubert (Edrita), denen es gelingt, trotz eines Autors und einer Regie, denen Aussage und Belehrung wichtiger als die Rollen zu sein scheinen, berührende Menschen aus Fleisch und Blut auf die Bühne zu stellen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung