Weit reichende Wurzeln

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Christliche Freikirchen wachsen heute dreimal so schnell wie die Weltbevölkerung: ein Rückblick auf ihre reformerischen Ursprünge und weltweite Verbreitung.

Den evangelischen und evangelikalen Freikirchen ist es nach jahrelangem Ringen gelungen, nun auch in Österreich im Zusammenschluss als "christliche Freikirchen“ staatlich anerkannt zu werden (vgl. FURCHE Nr. 35/2013). Solche Freikirchen stellen inzwischen ein Drittel der weltweiten Christenheit dar. Weithin unbekannt dürfte sein, dass sich viele dieser christlichen Freikirchen auf sehr alte Wurzeln berufen.

Erweckungs- und Reformbewegungen hat es gegeben, seit die urchristliche Gemeinde zum Staatschristentum avancierte. Historisch gesehen setzen sich reformerische Gruppen wie Waldenser, Böhmische Brüder, Mennoniten und Baptisten, Pietisten und Methodisten in den heutigen evangelischen und evangelikalen Freikirchen fort. Lange wurde dies entstellt und verdrängt.

Petrus Waldes aus Lyon übersetzt 1176 Teile des Neuen Testamentes in die Volkssprache und schickt seine Leute als Wanderprediger durch Südfrankreich und Norditalien, wo sie die ersten Freikirchen gründen. Verfolgung setzt ein, die Waldenser fliehen und zerstreuen sich ab dem 13. Jahrhundert in ganz Europa, wobei sie ihre Überzeugung überall hin mitnehmen.

Kampf für Religionsfreiheit

Handwerker und Händler tragen den Ruf nach Reformation auch nach England. John Wycliff, akademischer Theologe an der Universität Oxford, übersetzt die Bibel 1350 ins Englische, und wiederum ist es eine Laienbewegung, die Lollarden, die unter Lebensgefahr ihre neutestamentliche Vorstellung von Christentum durch die Länder tragen und Freikirchen gründen.

Jan Hus, 1396 Dekan an der Prager Universität, findet durch die Schriften Wycliffs Bestärkung in seinem reformerischen Denken und sollte als Vorkämpfer für die heutige Gewissens- und Religionsfreiheit gewürdigt werden. Er übersetzt die Bibel ins Tschechische und entzündet die reformerische Hussitenbewegung. Daraus wachsen ab dem 15. Jahrhundert im Zusammenschluss mit Waldensern die Mährischen Brüder, aus denen durch die helfende Initiative des Grafen von Zinzendorf ab 1720 die Herrnhuter Brüdergemeinde entsteht, die bis heute missionarischste Bewegung der Geschichte.

Als dritte Kraft der deutschen Reformation formieren sich 1525 in der Schweiz, Deutschland und Österreich die Täufer. Der Tiroler Täufer Jakob Huter flieht nach Böhmen, wo sich im Zusammenhang mit der böhmischen Reformation die Hutterer entfalten, die später vor der Gegenreformation nach Nordamerika fliehen und dort bis heute mit etwa 50.000 Mitgliedern in "urchristlichen Gemeinschaften“ zusammen leben.

Unter dem Wiedertäufermandat, das die Todesstrafe fordert, fliehen Schweizer und süddeutsche Täufer in die Niederlande, wo viele sich ab 1606 unter Menno Simons neu formieren und sich unter dem Schutznamen "Mennoniten“ (um der Todesstrafe zu entgehen) weit verbreiten. Aufgrund fortgesetzter Verfolgung retten viele Mennoniten ihr Leben nach Polen und Russland, wo ihnen Religionsfreiheit zugesichert wird. Andere Mennoniten wandern ab dem 17. Jahrhundert in die USA aus und entwickeln sich dort zu großen Verbänden.

Religionsfreiheit wird in Deutschland 1848, in Österreich mit dem Staatsgrundgesetz von 1867, in Europa mit der Menschenrechtskonvention 1950, innerhalb der Katholischen Kirche 1964 theoretisch zugesichert.

Von M. Simons zu Martin L. King

So kehren nach dem Fall der Mauer im 20. Jahrhundert 350.000 Mennoniten als Russlanddeutsche zurück und gründen im deutschsprachigen Raum freikirchliche Gemeinden. Mennoniten aus den USA kommen im 20. Jahrhundert als Missionare ins säkularisierte Europa zurück, wo sie sich als evangelische Freikirchen entfalten.

Als Fortsetzung der Lollardenbewegung im Untergrund Englands entwickeln sich Ende des 15. Jahrhunderts im Zuge der englischen Reformation die Puritaner und Dissenters. Eine Gruppe von ihnen flüchtet nach Amsterdam und erhält dort 1609 von Menno Simons die Erwachsenentaufe. Sie nennen sich Baptisten und gründen 1611 die ersten Freikirchen in London. Viele wandern nach Nordamerika aus und gründen 1639 in Rhode Island den ersten demokratischen Staat, in dem Religionsfreiheit in der Verfassung verankert wird.

Im Verbund mit den Quäkern setzen die Baptisten durch, dass Religionsfreiheit und Menschenrechte bereits 1776 in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika verankert wird. Als 1964 die Rassentrennung gesetzlich aufgehoben wird, war dies maßgeblich dem Baptistenprediger Martin Luther King zu verdanken.

Hohe Wachstumsrate

Im 17. und 18. Jahrhundert entsteht in Deutschland im Zuge einer zweiten Reformationswelle der Pietismus, in England der Methodismus, was zu großen Erweckungsbewegungen führt. Missionare werden in die ganze Welt ausgesandt. Im 19. Jahrhundert kommen die Baptisten zurück nach Europa und vereinigen sich mit Brüdergemeinden und Mennoniten zu evangelischen Freikirchen. 1846 wird in London die Evangelische Allianz gegründet.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert entsteht in den USA als Reaktion auf die Säkularisierung und den Liberalismus der Moderne der Evangelikalismus, der viele der genannten Denominationen in sich vereint. Dieser kommt Anfang des 20. Jahrhunderts, später auch nach dem 2. Weltkrieg mit der amerikanischen Besatzung nach Europa. Ab den 1920 Jahren kommen die Pfingstkirchen und charismatischen Bewegungen dazu. Der Evangelikalismus hat sich 1957 weitgehend vom fundamentalistischen rechten Flügel der Evangelikalen in den USA getrennt, wobei der europäische Evangelikalismus nicht mit diesem gleichzusetzen ist.

Seit den 1980er Jahren vervielfältigt sich die freikirchliche Szene auch in Österreich und hat sich seither verzehnfacht. Dies nicht zuletzt auch dadurch, dass ehemalige Glaubensflüchtlinge und Mitglieder vieler Denominationen aus aller Welt als Asylanten nach Europa kommen und wiederum neue Freikirchen gründen. Seit der Jahrtausendwende entstehen Zusammenschlüsse und Dachverbände christlicher Freikirchen. Die größten weltweit strukturierten christlichen Freikirchen sind heute die Herrnhuter Brüdergemeinden als Unitas Fratrum mit ca. einer Million Mitglieder, die Täufer-Mennoniten mit 1,6 Millionen und die Baptisten mit 110 Millionen.

Insgesamt wird derzeit weltweit mit etwa 600-700 Millionen Christen in evangelischen, evangelikalen und pfingstlichen Freikirchen gerechnet, die Wachstumsrate ist dreimal so schnell wie die der Weltbevölkerung (1,39/4,7). Die nunmehrige staatliche Anerkennung dieser christlichen Freikirchen stellt den versöhnlichen Abschluss einer mehr als 800 Jahre dauernden Geschichte der Verfolgung und Ausgrenzung dar.

Die Autorin ist Religionswissenschaftlerin und dissertiert an der Kath.-Theol. Fakultät der Uni Graz

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