Rechte Gewalt im Namen der Ukraine

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Flüchtlinge erheben schwere Vorwürfe gegen ukrainische Freiwilligenbataillone. Die Truppen sollen in der Ostukraine Zivilisten misshandelt, entführt und beraubt haben. Besonders Radikale Nationalisten und Neonazis sollen verantwortlich sein.

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Flüchtlinge erheben schwere Vorwürfe gegen ukrainische Freiwilligenbataillone. Die Truppen sollen in der Ostukraine Zivilisten misshandelt, entführt und beraubt haben. Besonders Radikale Nationalisten und Neonazis sollen verantwortlich sein.

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Nur zwei Tüten mit Pullovern und Strickjacken durfte Elena Grigoriwna mitnehmen. Am 12. Jänner flüchtete die Rentnerin aus ihrem Heimatort Pesky nahe Donezk. Die Kleinstadt war monatelang vom Rechten Sektor besetzt. Ein Verband, dem 3000 bis 10.000 Neonazis angehören und der aufseiten der Ukraine gegen die Separatisten kämpft.

Die Rechtsradikalen hätten Angst und Schrecken in Pesky verbreitet, erzählt Grigoriwna. "Sie schossen in Hauswände, besetzten Wohnungen und räumten diese aus", sagt die 72-Jährige. "Unser Nachbar wollte sein Apartment nicht räumen und wurde deshalb krankenhausreif geschlagen."

Im August marschierte der Rechte Sektor in Pesky ein, "da hatte sich die Armee schon resigniert zurückgezogen", erinnert sich Grigoriwna. Die Kämpfer schwenkten rot-schwarze Flaggen - die Symbole für Blut und Erde. Der Sender Gromadskij-TV zeigte, wie die Männer von Pesky aus mit Artillerie Richtung Donezk feuerten. Im Winter versteckte sich Grigoriwna mit ihrer Familie in einem Keller. Wasser, Decken und Lebensmittel brachte eine Hilfsorganisation vorbei.

Jetzt wohnt die Frau in einem Flüchtlingsheim in Slowjansk, das auf von der Ukraine kontrolliertem Gebiet liegt. Das Doppelstockbett knarrt, eine Glühbirne baumelt an der Decke, die Luft ist stickig. "Ich habe 40 Jahre in einer Kolchose gearbeitet, doch die Leute vom Rechten Sektor haben unseren Betrieb zerstört und Traktoren und LKW beschlagnahmt", erzählt sie.

Alla Nowikowa, die ebenfalls aus Pesky floh, bestätigt die Vorwürfe gegen den Rechten Sektor. Sie wartet vor einer Garage in Slowjansk auf kostenlose Lebensmittel und erzählt: "Wir hatten vor den Männern Angst. Sie zwangen die Einwohner, tote Kämpfer in ihren Gärten zu begraben."

Fragwürdige Freiwillige

Über 50 Freiwilligenbataillone kämpfen neben der Armee aufseiten Kiews. Die Truppen finanzieren sich selbst und sind teilweise besser ausgerüstet als das Militär. Einige Verbände werden von Oligarchen gesponsert, wie das Dnipro-1-Bataillon, hinter dem der Magnat Igor Kolomoiski steht.

Auch der Rechte Sektor stellt zwei Kampfeinheiten, ein Fünftes und ein Neuntes Bataillon. Die Gruppe ist anti-europäisch und hat in der Ukraine nur wenig Rückhalt. Ihr Vorsitzender Dimitri Jarosch erreichte bei den Präsidentenwahlen weniger als ein Prozent der Stimmen. Doch ausgerechnet Jarosch, der Anführer der Rechten, wurde Anfang April zum Berater des Verteidigungsministers ernannt.

Die Regierung wolle die Freiwilligen unter Kontrolle bekommen und biete den Anführern deshalb lukrative Posten an, vermutet Bogdan Owtscharuk, Sprecher von Amnesty International in Kiew. Die Bataillone kämpften im vergangenen Jahr noch auf eigene Faust und kritisierten die Militärführung immer wieder als zu schwach. Einige Kommandeure drohten gar mit Privatkrieg gegen die prorussischen Rebellen. Die Armee will die Bataillone dagegen in die Kommandokette integrieren. 37 Einheiten sind bereits dem Militär beigetreten, der Rest soll bald folgen. Die Freiwilligenkorps seien bereit, sich in die staatlichen Strukturen einzugliedern, sagt Neonaziführer Jarosch.

Wichtige Posten für Rechte

Dabei gelangen auch Rechtsradikale auf wichtige Posten. Im November wurde Vadim Trojan, Kommandant des Asow-Bataillons, zum Polizeichef der Region Kiew ernannt. Das Asow-Bataillon ist in Mariupol am Asowschen Meer stationiert und besteht mehrheitlich aus Nationalisten. Das Symbol der Truppe ist die Wolfsangel, eine Rune, die schon die SS-Division "Das Reich" benutzte. Das Militär will auf die rechten Kämpfer nicht verzichten: Das Asow-Bataillon kämpft bei Mariupol an vorderster Front. In Schirokine östlich der Hafenstadt kam es diese Woche zu Gefechten mit Separatisten. Würden die Freiwilligen abziehen, könnte die Armee die Stadt nicht so einfach sichern. Ähnlich war die Lage in Pesky, wo der Rechte Sektor der Armee monatelang Rückendeckung gab.

Würden die Freiwilligen dem Militär unterstellt, hofft Amnesty-Sprecher Owtscharuk, könne die Armee Verbrechen leichter unterbinden. "Die Bataillone wären gezwungen, sich ans Wehrrecht zu halten", sagt er. Vergangene Fälle würden dagegen nur schleppend oder gar nicht untersucht, kritisiert er. "Das ist aber dringend notwendig, um zukünftige Straftaten zu verhindern", sagt Owtscharuk.

So wie den Übergriff auf Lena Iwantschenko, die im Jänner aus Awdejewka nach Slowjansk geflohen war: "Mehrere Monate war meine Heimatstadt von Separatisten besetzt. Im Juli rückten ukrainische Freiwillige ein, schossen wild um sich und durchsuchten Häuser nach Waffen. Sie kamen auch in unsere Wohnung und nahmen die Kleidung meiner zwei Kinder weg."

Misshandlungen

Von Misshandlungen durch ukrainische Kämpfer berichtet Artem Sydorow. Er kommt aus der Stadt Debalzewo, die monatelang umkämpft und im Februar von Separatisten erobert worden war. "Ich habe dort im Metallurgiewerk gearbeitet", erzählt Sydorow. "Auf dem Heimweg haben mich Soldaten abgefangen. Mit anderen Einwohnern musste ich mich drei Stunden auf die Straße legen. Die Soldaten waren betrunken und haben uns ständig getreten", erzählt er und deutet auf eine dunkle Prellung am Hals.

Inzwischen lebt der Mann mit seiner Frau und den zwei Kindern im Kloster Swjatogorsk bei Slowjansk. Die Abtei liegt auf der ukrainischen Frontseite und bietet knapp tausend Vertriebenen Unterschlupf. Familienvater Sydorow will trotz des Übergriffes in der Ukraine bleiben, "weil es hier sicherer ist", begründet er. Die Flüchtlinge Grigoriwna, Nowikowa und Iwantschenko in Slowjansk weisen auf Rente und Sozialhilfe hin, die sie nur in der Ukraine bekommen würden.

Auch die prorussischen Separatisten würden Verbrechen an Zivilisten begehen, betont Aktivist Owtscharuk. Über 400 Menschen hätten die Milizen bisher entführt. Amnesty International und Human Rights Watch sprechen ferner von Folter, Raub, Mord und Willkürjustiz. In Lugansk, zum Beispiel, erschossen Kosaken letztes Jahr einen jungen Mann, weil er nicht aufseiten der Separatisten kämpfen wollte.

Amnesty International fordert beide Seiten auf, Misshandlungen zu stoppen. "Wir werden uns mit Zeugen in Verbindung setzen und allen Vorwürfen nachgehen", sagt Owtscharuk.

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