7088245-1994_20_27.jpg

Azurne Melancholie einer Schiffbrüchigen

19451960198020002020

Die iateinameriltanische Frauenpoesie feiert die ersten 100 Jahre gemeinsam mit ihrer Begründerin iVlaria Eugenia Vaz Ferreira.

19451960198020002020

Die iateinameriltanische Frauenpoesie feiert die ersten 100 Jahre gemeinsam mit ihrer Begründerin iVlaria Eugenia Vaz Ferreira.

Werbung
Werbung
Werbung

In Montevideo kam Maria Eugenia Vaz Ferreira am 13. Juli 1875 zur Welt und wuchs wohlbehütet in ihrem „erzkatholisch" geprägten Elternhaus auf. Am 6. August 1894, gut drei Wochen nach ihrem 19. Geburtstag, rezitierte sie im Katholischen Klub von Montevideo ihr Gedicht „Monolog", in dem sie in reimlosen Quartetten von den eingrenzenden Meinungen ihrer Mutter erzählt, wenn sie sich ihren Träumen, Idealen und Versen hingibt. Da wurde ihr die Nutzlosigkeit der Poesie im Gegensatz zu häuslichen Fertigkeiten wie Nähen und Stricken vorgehalten, die schlechte Wirkung von Novellen für den Schlaf und die Aussichtslosigkeit einer Poetin, die keiner heiraten würde. Am nächsten Tag publizierte die Tageszeitung „La Razon" von Montevideo auf der Titelseite dieses erste Manuskript der Poetin.

Maria Eugenia Vaz Ferreira rezitierte fortan zu verschiedenen Anlässen in ihrer Heimatstadt und konzertierte auch immer häufiger als Interpretin und Komponistin. So wurde die junge Künstlerin in beiden Metropolen am Rio de la Plata - Montevideo und Buenos Aires - bekannt, wo es zu jener Zeit ungewöhnhch war, clal3 eine Frau künstlerisch in der Öffentlichkeit auftrat.

Im Konservatorium gab sie am Michaelstag im Frühling 1900 ein Schumann-Konzert, woraus sie einige Stellen für einen ihrer Einakter entnahm. In den wichtigsten Literaturzeitschriften vom

Rio de la Plata erschienen ihre anfangs neoromantischen, dann modernistischen tmd immer individueller gestalteten Gedichte. Raul Montero Bustamente, Herausgeber einer Lyrikanthologie aus dem Jahr 1905, stellte in seinem Vorwort stolz fest, daß Maria Eugenia Vaz Ferreira „ohne Zweifel die erste Poetin Latein-amerikas und die größte Dichterin ist, die Uruguay bisher hatte."

In einem vom späteren Literaturnobelpreisträger Juan Ramon Jimenez ausgewählten Gedicht von Maria Eugenia Vaz Ferreira ward das poetische Widerspruchsbewußtsein aufgelöst in der metaphorisch realisierten Einswer-dung mit dem Element Luft; phönixhaft begründen sich Gefühl, Weltsicht und künstlerischer

Ausdruck im Nichts: „Namenloses Meer ohne Ufer, / ich träumte von einem unermeßlichen Meer, / das endenlos und ursprünglich war, / der Raum und die Zeiten. // Die Wellen wogten auf und ab, / uralte Mutter des Lebens, / der Tod, imd beide hörten auf / im Augenblick der Neugeburt. // Wieviel Geborenwerden und Sterben / innerhalb des todlosen Tods! / Wiege und Grab - das Spiel / hieß Einsamkeit ... // Plötzlich überflog ein heimatloser Vogel / die Meeresweiten; ,Chojė ... Chojė ...', / erklang sein klagender Ruf, / mehrfach; imd verschwand. // Begrub sich in der Ferne, / tropfend: ,Chojė ... Chojė ...' / Ich erwachte. Und auf den Wogen / begann ich erneut zu fliegen." („Einziges Gedicht").

Zwischen 1908 und 1913 schrieb sie drei Einakter, die alle im Teatro Solis von Montevideo uraufgeführt wurden. 1915 vrarde sie zur Professorin für Literatur an die Frauen-Universität von Montevideo berufen. Doch nach sieben Jahren mußte sie ihre Lehrtätigkeit aus Gesundheitsgründen aufgeben. Völlig zurückgezogen und ausgebrannt starb die 48jährige Künstlerin am 20. Mai 1924 in Montevideo.

Der beziehungsreiche Titel ihres bis vor wenigen Jahren nur von einigen Vorabdrucken bekannten Erstlings „Feuer und Marmor" deutete die konfliktive Dualität symbolisch an, die für Maria Eugenia Vaz Ferreira charakteristisch war: „Ich habe keinen Weg; / meine Schritte verlaufen sich in der tropischen Wildnis / vor lauter widersprüchlicher Anstrengung ..." Ihr Leben und Werk war gekennzeichnet von lichten Anflügen zum Schönheitsideal und azurner Melancholie einer Schiffbrüchigen, verlorener Liebe und bewohnter Einsamkeit, ersehnter Rückkehr und unvermittelter Abkehr, stillem Wachen in sternlosen Nächten, das vom echolosen Geschrei der Frösche unterbrochen wurde, und der nackten Erfahrung der erkrankten Existenz, die dem um-nachteten Verstummen anheimfiel: „Nichts bleibt der Schiffbrüchigen, nichts mehr; nicht einmal / die süße Erinnerung an einen alten, vergeblichen.Traum."

Kurz vor ihrem Tod brachte sie zum ersten Mal ein Buchmanuskript zur Druckerei. Doch erst nach ihrem Tod erschien allmählich ihr lyrisches Werk in eigenen Büchern, die ihr Bruder, der Philosoph und Pädagoge Carlos Vaz Ferreira (1872-1958) veranlaßte oder selbst herausgab. In der jüngsten Gesamtausgabe, die 1986 in" Montevideo erschien, sind 87 neue, unveröffentlichte oder nur schwer zugängliche Gedichte versammelt sowie erstmals das Erstwerk „Feuer und Marmor".

Mit der uruguayischen Poetin wuchs das Selbstverständnis der schreibenden Frauen in Lateinamerika. Auch stellvertretend für andere frühe lateinamerikanische Poetinnen erhielt die chilenische Dichterin Gabriela Mistral 1945 den ersten Nobelpreis für Literatur aus Lateinamerika.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung