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Die Dichtung als die wahrere Wirklichkeit

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Man kann Geschichten erfinden, wie es schlechte Autoren machen, oder sich als Autor von Figuren finden lassen.

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Man kann Geschichten erfinden, wie es schlechte Autoren machen, oder sich als Autor von Figuren finden lassen.

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Einen Einblick in seine Arbeitsweise als Dichter gewährt der niederländische Autor Cees Nooteboom in dem Bändchen „Ein Lied von Schein und Sein“. Dieses Sein und Schein läuft auf zwei Ebenen ab: Die erste ist ein fiktives Gespräch zwischen dem Autor und einem erfolgreichen Schriftstellerkollegen, dessen Arbeitsweise „modern“ ist und sich dadurch von jener des Erzählers unterscheidet. Die andere Ebene ist die Erzählung als solche, in der sich die Figuren „selbständig“ im Kopf des Dichters entwickeln und ihr Eigenleben dem Erzähler aufzwingen.

Ausgangspunkt ist der Satz: „Der Oberst verliebt sich in die Frau des Arztes“. In dem Augenblick, in dem dieser Satz Besitz von dem Dichter ergriffen hat, beginnen diese beiden Figuren allmählich Gestalt anzunehmen und zu handeln. Der Erzähler der Geschichte wird zum Be obachter. Er erkennt, daß seine Figuren nicht aus dieser Zeit und nicht aus seiner vertrauten Umgebung stammen. Deshalb muß er, um sie zu verstehen, vieles nachlesen.

Für den Kollegen sieht das so aus, als schriebe der Erzähler über Menschen, die tatsächlich gelebt haben. Doch das ist der Punkt, den uns Cees Nooteboom hier erklären will: Echte Dichtung (also nicht die Schreiberei des Kollegen) ist wahrer als die Wirklichkeit, sie ist „Verdichtung“ der Wirklichkeit und kann - was in der Geschichte vom Oberst und dem Arzt der Fall ist — auch scheitern.

Der Text an sich ist jedoch keineswegs gescheitert, sondern Zeugnis eines brillanten Kunst-Stückes und literarischen Spieles.

EIN LIED VON SCHEIN UND SEIN Von Cees Nooteboom.

Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1994. 112 Seiten, öS 219,-.

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