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Hauserbauende Lumpensammler

19451960198020002020

Die Lumpensammler von Emmaus. Abbe Pierre im Kampf gegen das Elend. Von Boris Simon. F.-H.-Kerle-Verlag, Heidelberg. 296 Seiten. Preis 9.80 DM

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Die Lumpensammler von Emmaus. Abbe Pierre im Kampf gegen das Elend. Von Boris Simon. F.-H.-Kerle-Verlag, Heidelberg. 296 Seiten. Preis 9.80 DM

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In den Zeitungen hört man von Abbe Pierre meist im Zusammenhang mit Ereignissen, die sich publizistisch ausschlachten lassen. Als er im vergangenen Winter während der großen Kälteperiode durch seine aus der Not des Augenblicks improvisierten Hilfsmaßnahmen Hunderte von Pariser Obdachlosen vor dem Erfrierungstod bewahrte, oder als Charly Chaplin ihm das Geld seines Friedenspreises für seine großartige soziale Arbeit überreichte, waren das willkommene Anlässe für sensationelle Schlagzeilen der internationalen Presse. In gewissem Sinn ist das Werk des Abbes auch sensationell: als ein Abenteuer des Herzens, als Tat eines vom Elend der Armen und Gescheiterte)) zutiefst ergriffenen Mannes, der, mit ebensoviel Kühnheit und Phantasie wie praktischem Wirklichkeitssinn, Mittel und Wege findet, die dringendste ihm begegnende Not zu lindern — ohne vorgefaßten Plan, ohne gesicherte Mittel, von Fall zu Fall handelnd, wie die Umstände es gerade fordern.

So zeigt den Abbe Pierre und seine Helfer in dem Pariser Auffangheim Emmaus Boris Simon in seinem Bericht: „Die Lumpensammler von Emmaus.“ Es ist ein sachlicher, schlichter Bericht, der doch beinahe wie ein Märchen anmutet. Aber, das alles ist Wirklichkeit: der Baubeginn der ersten Pariser Notstandssiedlung ganz ohne Mittel, mit Arbeits- und Obdachlosen, die in Emmaus Aufnahme fanden; die Straßensammlung des Abbes, als kein Geld mehr da ist, um weiterzubauen; seine Quizsendung, die Emmaus an einem einzigen Abend 256.000 Francs einbringt; und schließlich das Lumpensammeln — angeregt von einem aus der Zunft, der in Emmaus strandete —, das, klein begonnen, allmählich zur sicheren Grundlage der anwachsenden Bautätigkeit des Vaters wird.

Dem Abbe Pierre geht es bei seiner Arbeit von Anfang an um den leidenden Einzelmenschen, dem er helfen will, nicht nur in materieller, sondern auch in seelischer Hinsicht. Das gibt seinem Unternehmen das besondere Gesicht. Er weiß, daß alle diese Gestrandeten, Obdach- und Arbeitslose und entlassene Sträflinge, die nach Emmaus kommen, mehr noch als an ihrer äußeren Notlage an dem Bewußtsein kranken, zu nichts nutze zu sein, von niemandem gebraucht zu werden. Hier setzt der Vater Pierre an und läßt sie spüren, daß e r sie braucht: zur Erweiterung des Heimes Emmaus und zum Aufbau seiner Notsiedlung für obdachlose Familien, deren Kinder auf der Straße sterben, die in Zelten verkommen und an der Hoffnungslosigkeit zugrunde gehen. Und damit nimmt er seinen Schützlingen das bittere Gefühl, Almosen zu empfangen, jemandem etwas schuldig zu bleiben. So macht er aus Gescheiterten Retter von Menschen, die noch ärmer sind als sie selbst, zeigt ihnen einen sinnvollen Lebenszweck und gibt ihnen ihre Würde wieder.

Das zweite wesentliche Anliegen des Abbes Pierre ist die menschenwürdige Unterbringung von obdachlosen Familien. Aus dem Nichts heraus hat er mit dem Bau seiner ersten Notstandssiedlung begonnen und schließlich efreicht, daß heute in ganz Frankreich ähnliche Projekte in Angriff genommen werden und daß 1954 auch der Staat mit dem Bau von mehreren tausend Notstandswohnungen begonnen hat.

All das geschieht in Emmaus völlig ohne Pathos und ohne jede Intoleranz — „alle rassischen, religiösen und politischen Unterschiede bleiben draußen vor der Tür“. Und Abbe Pierre bringt es fertig, daß dieses Leben des Dienstes und Opfers bei aller Aermlichkeit und Härte und trotz mancher nicht vermeidbaren Fehl- und Rückschläge für seine Schützlinge, unter denen es wahrlich hartgesottene Brüder gibt, ein fröhliches und glückliches wird.

Boris Simon schildert diese Entwicklung der Anfänge von Abbe Pierres Werk in seinem Buch sehr lebendig. Es ist ein Buch, das ans Herz greift und dazu aufruft, das unsere zu tun für die große Gemeinde der Unglücklichen, am besten sofort, und sei es, daß wir nur damit beginnen, uns von dem zu trennen, was in unseren Kasten und Wohnungen ungenutzt herumliegt. SOS kann es brauchen!

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