6604376-1954_08_09.jpg
Digital In Arbeit

Randbemerkungen ZUR WOCHE

Werbung
Werbung
Werbung

„WIR ERINNERN AN DIE FEBRUARTAGE nicht, um alte Wunden aufzureißen. Wir wollen aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernen. Ein Gemeinwesen kann nur dann sich in Frieden entwickeln und ein sicherer Hort seiner Bürger sein, wenn die verschiedenen politischen Richtungen im demokrdtischen Geist Zusammenarbeiten. So richtig es ist, daß Interessengegensätze in Wirtschaft und Staat bestehen und ausgefochten werden müssen, so falsch ist es, das Heilmittel in der Gewalt zu sehen. Gewalt zerstört. Geist und Idee, Tatsachen und Argumente sind wirksamere Kräfte." Diese Worte, die der Präsident des Gewerkschaftsbundes, Johann Böhm, in seiner Rundfunkansprache am 12. Februar sprach, verdienen bemerkt zu werden. Nicht nur am Rande.

NUR KEINE KONKURRENZ! So überschreibt die volkswirtschaftliche Zeitschrift, „Der österreichische Volkswirt“ den Leitartikel ihrer Ausgabe vom 12. Februar. Wenn ein solches Blatt einem Problem so gioße Aufmerksamkeit widmet, muß es sich wohl um eine Frage von Bedeutung handeln. Dies ist in der Tat so. „Der österreichische Volkswirt' unterzieht das System und die Mentalität einer herben Kritik, nach welchen manche Kreise das Recht der Konzessionserteilung an neu zu errichtende Betriebe behandelt sehen wollen. Wir finden da folgende höchst beachtenswerte Sätze: „Weite Kreise stehen noch immer auf dem Standpunkt, daß es zu den wohlerworbenen Rechten der vorhandenen Unternehmen gehört, in ihrer auskömmlichen und bequemen Existenz nicht durch den Wettbewerb plötzlich auftauchender neuer Betriebe gestört zu werden. Für sie ist jede ernstliche Konkurrenz eo ipso unlauterer Wettbewerb.“ Da sich die Folgen des gegenwärtigen Konzessionssystems beziehungsweise seiner Handhabung — wie die Ausführungen darlegen — auf wichtigste Bedarfsgebiete erstrecken, hat die Allgemeinheit ein legitimes Interesse, mißbräuchliche Ausdeutung von Gesetzesbestimmungen zu verhindern. Wie kann man da noch von „freier Wirtschaft“ sprechen? Man schaffe entweder einen wirklich freien, die wechselseitige Konkurrenz ermöglichenden Markt oder Bestimmungen zum Schutze dessen, auf den jede Produktion letztlich bezogen sein muß —, nämlich des Verbrauchers.

ZUM „KORNBLUMENBALL“ wird das „volksbewußte Wien“ eingeladen. Träum ich … wach ich? Rasch ein Blick auf den Kalender! Nein, wir schreiben nicht 1897, sondern 1954. Auch tobt in unserem Parlament nicht der Kampf gegen die Sprachenverordnungen des Ministerpräsidenten Badeni, sondern Oesterreich bemüht sich bekanntlich gegenwärtig in aller Ruhe, aber mit Nachdruck, sein Lebensrecht vor den Großen dieser Welt, sein Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit zu vertreten. So bleibt nur eine Möglichkeit. Georg Ritter von Schönerer, der doch die Kornblume, als Lieblingsblume Bismarcks, zum Symbol seiner „Alldeutschen" gemacht hat, ist von Walhalla herabgestiegen und versammelt seine Recken zur politischen Geisterstunde im Münchnerhof … Nein, auch diese Gedanken müssen wir fahren lassen, dettn als Gastgeber tritt in großen Blockbuchstaben klar und deutlich der Wiener „Verband der Unabhängigen" auf. Er straft hiermit wieder einmal sein Zentralorgan Lügen, das immer wieder und mit großem Eifer der Oeffentlichkeit versichert, daß es im Namen einer „neuen Partei" spricht…

„UM DREIZEHN UHR FÜNFZEHN VERLIESS ICH DAS RUNDFUNKGEBÄUDE", berichtet Abbė Pierre. „Fünf Minuten später waren bereits ein Kubikmeter Kleidungsstücke und Decken in meinem Quartier deponiert. Tags darauf mußte die Post fünf zusätzliche Telephonleitungen bei mir installieren." Man ist in Versuchung, den dramatischen Bericht darüber, was sich in Paris zwischen dem 1. und 2. Februar am Fuße des Pantheons oder im Hotel Rochester abgespielt hat, hier nicht abzubrechen. Denn erst die Einzelheiten voller Tragik, Wunder und Wunderlichkeit runden die Bilanz dieser und der nachfolgenden Tage. Das Thermometer sank 20 bis 25 Grad unter den Gefrierpunkt, Wenige Tage vorher hatte der französische Innenminister an die Präfekten geschrieben: „Die Nichtdurchführung von Delogierungsurteilen stellt einen Angriff gegen die Autorität des Staates dar…" Die Zahl der Obdachlosen geht in Paris in die Zehntausende. Der Abbe Pierre mit seiner seit sechs Jahren arbeitenden „Emmaus-Genossenschaft", mit seinen „Lumpensammlern“ konnte dort, wo der Staat kläglich versagt, freilich nur noch improvisieren — aber mit folgendem Ergebnis: In den fünf Kältetagen trug Paris 120 Millionen Francs und 120 Tonnen Kleidungsstücke und Stoffe zusammen. Hunderte von Privatautos lasen die Unglücklichen auf, die der Fremde gewöhnlich für „pittoresk", für „das Mysterium von Paris“ zu halten geneigt ist. In Wahrheit machten die „Clochards“, die berufsmäßigen Vagabunden, nur eine kleine Minderheit aus. Unter diesen gab es allerdings welche, die ihrem Unmut folgenden Ausdruck gaben: „Lassen Sie mich in Ruh… Ich habe übrigensGeld!" Und sie hatten es auch. Aber die Polizisten durften diesmal nichts fragen. Die Aufgabe der sozialen Umerziehung bleibt für ruhigere Tage. Ebenso die Durchführung von schönen Bauprogrammen, geboren unter der Schockwirkung, die Abbe Pierre unter den Reichen und bei den Behörden erzielte. Aber Abbe Pierre erreichte noch anderes, und das wird vielleicht den Obdachlosen und Ausgestoßenen — noch auf längere Sicht — noch wesentlich mehr zugute kommen als Wollkleider und Wärmestuben. Er lehrte die Mächtigen der .französischen Metropole sehen, und „mit den Augen denken“. Er, der kein Aufrüttler, bloß ein Priester sein will, der seine Pflicht weiß; der nicht klagt und anklagt, sondern einfach sagt, was zu tun ist, könnte gerade durch diese seine stille und so sehr menschenwürdige Lektion an die verborgenen Reserven nicht nur der französischen Keller und Speicher, sondern zuallererst der moralischen Gewissen herankommen. An diesem Punkt aber erhält der „Volksaufstand der Güte“ des Abbe Pierre auch eine unbeabsichtigte, eminent politische Bedeutung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung