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Mehr als ein Komplex

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PILATUS. Ein Komplex. Von Alexander Lernet-Holenla. Paul-Zsolnay-Verlag. 224 S. S 110.-.

Die Leser von Lemet-Holenias Roman „Der Graf von Saint Ger-madn“ erinnern sich gewiß noch, wie der Tagebuch schreibende Industrielle Phillipp Branis. tief erschüttert über den gottfemen Tod seiner Frau, nach Gottesbeweisen sucht. Freunde bringen ihn in Kontakt zu dem Olmützer Domherrn Baron Donati — ein heute ausgestorbener Typ des Mannes von Welt im Priesterkleid. Anläßlich eines Besuches Donatis in Wien entspann sich dann zwischen beiden Herren im Hotel Bristol bei Tee und Zigarrenrauch ein äußerst dichter Dialog, wobei Donati eine Jugendgeschichte erzählt: Im Priesterseminar versuchten die jungen Zöglinge in einem improvisierten Spiel durch die Person des Pontius Pilatus Zeugenschaft über die Existenz Gottes zu gewinnen Diese eingeschobene Erzählung bricht dann etwas unvermutet ab, und das Schicksal des Phillipp Branis erfüllt sich.

Jenes Zwischenspiel — oder besser noch: das Thema, dem es gewidmet ist — hat sich aber bei seinem Verfasser festgesetzt, es ist bei Lernet-Holenia beinahe zu — wie er im Untertitel bekennt — einem Komplex geworden. Deshalb widmet der vor kurzem seinen 70. Geburtstag feiernde Dichter dem Pilatus und über dessen Person hinaus der Menschheitsfrage nach dem Gottmenschen Jesus Christus dieses Buch.

Wenn ein homme de iettres eine solche Frage stellt, so wird sie gewiß in einer anderen Sprache vor-

gebracht als sie die Theologie kennt. Lernet-Holenias kühne Hauptthese, die in dem fiktiven Gespräch zwischen dem Präsidenten eines hohen Gerichtes und einem Kardinal aufgestellt und durch historische Zeugenschaft erhärtet wird, ist die: Am Vorabend des Martyriums des Herrn fand ein jüdischer Aufstandsversuch in Jerusalem statt, in den Jesus von Nazareth hineingezogen wurde. (Der triumphale Einzug in Jerusalem am Palmsonntag, die gewaltsame Austreibung der Händler aus dem Tempel.) Für einen historischen Moment überwältigte die menschliche Natur die göttliche, und Christus erlag der Verführung, der weltliche Messias zu sein. Doch sehr bald kommt wie ein Blitz die Erkenntnis, daß Er dem Fürsten dieser Welt Raum zu geben Gefahr gelaufen ist. Deshalb und nicht allein aus Todesangst die große Verzweiflung am ölberg, das Gefühl, vom Vater verlassen worden zu sein und die Annahme des Kreuzestodes als Sühne für alle Menschen, aber auch für diesen Moment, in dem Er drohte, nur Mensch zu sein.

Spekulationen eines Mannes der Literatur? Gewiß! Aber eine These, die in einer Zeit, welche sich wieder sehr mit dem historischen Jesus befaßt, Neutestamentier, Historiker. Juristen und nicht zuletzt Lernet-Holenia zu einem Gespräch vereinigen sollte. Konkret: Das geistige Wien könnte eines interessanten Abends in dem Internationalen Kulturzentrum in der Annagasse sicher sein.

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