Mit Wärme, Witz und Wissen

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Dimitré Dinevs Romanerstling "Engelszungen" begeistert.

Wien, 30. Dezember 2001. Zwei bulgarische Einwanderer treibt es unabhängig voneinander in den Prater, wo sie im "Casino Casablanca" ihr letztes Geld verspielen. Beide treffen sie dort auf einen Polen, der ihnen rät, auf dem Zentralfriedhof das Grab von Miro aufzusuchen. Miro sei schon zu Lebzeiten ein Engel für alle Einwanderer gewesen. An sein Grab sollten sie gehen, ihm Blumen mitbringen und um Hilfe bitten. Svetljo und Iskren halten den Polen zwar für verrückt, aber zu verlieren haben sie nichts mehr. So kommt es, dass die beiden am Grab des toten Serben aufeinandertreffen.

Das ist der Einstieg in den wunderbaren Roman "Engelszungen" von Dimitré Dinev. Dinev, Jahrgang 1968, ist selbst 1990 aus Bulgarien nach Österreich geflohen und lebt seither in Wien. Erste Aufmerksamkeit erregte er mit dem 2001 in der "edition exil" erschienenen Erzählband "Die Inschrift". Die erzählerische Vitalität gepaart mit einer Sprache, die so bildreich wie musikalisch ist, faszinierte bereits an der "Inschrift", umso mehr als Dinev nicht in seiner Muttersprache, sondern auf Deutsch schreibt.

Nun hat er seinen ersten Roman verfasst und der bleibt bis zur letzten Seite so handlungsreich und auf vertrautem Fuß mit Welten, die jenseits rationaler Erfassbarkeit liegen, wie der Beginn andeutet. Abwechselnd wird Svetljos und Iskrens Geschichte kapitelweise ausgebreitet. Wobei Dinev weit ausholt - bis zu den Urgroßeltern werden die Familiengeschichten der beiden zurückverfolgt. Obwohl sie einander bewusst nie begegnet sind, sind ihre Schicksale doch eng miteinander verwoben. Iskrens Vater, ein hoher KP-Funktionär, veranlasst die Degradierung von Svetljos Vater, einem Milizionär. Sich dafür zu rächen, wird einer der Hauptinhalte im Leben des Letzteren. Das Leben und Lieben aller Protagonisten wird von der politischen Situation beeinflusst, geprägt, deformiert. Fast alle fühlen sich ab einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben betrogen - vom Ehepartner, von den Eltern, von den Kindern und vom Kommunismus sowieso.

Dinevs Roman begeistert in vielfacher Hinsicht: Da ist sein großes Talent Menschen zu porträtieren - einige wenige Sätze genügen und man glaubt, die Person vor sich zu sehen. Genauso verhält es sich bei der Schilderung lokaler Atmosphären - man riecht den Frühling in Plovdiv, dem Hauptschauplatz des Romans. Was aber am meisten berührt, ist die Haltung, mit der Dinev von Menschen erzählt. Iskren und Svetljo haben an diesem 30. Dezember den Tiefpunkt ihres Lebens in Wien erreicht. Wer würde sich beim Anblick der beiden abgerissenen Gestalten danach fragen, was ihre Großeltern sich für sie erträumt oder wie sie Lesen gelernt haben, wer ihre erste Liebe war und was sie schlussendlich zum Verlassen Bulgariens bewogen hat? Dinev erzählt ihre Geschichte mit Wärme, Witz und großem Wissen. Und er würdigt die Menschen, wenn er bzw. indem er von ihnen erzählt. Das ist so schön wie selten in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur.

Engelszungen

Roman von Dimitré Dinev

Verlag Deuticke, Wien 2003

598 Seiten, geb., e 25,60

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