Über das Wesen unserer Wirklichkeit

Werbung
Werbung
Werbung

Er war dreizehn Jahre jünger als Mozart und zwanzig Jahre jünger als Goethe. Man muss schon die Größten seiner Zeit aufrufen, um dem Werk Alexander von Humboldts (1769– 1859) gerecht zu werden. Ihn zeichnen eine wache Intelligenz, unbändige Neugier, die rastlose Suche nach den Gesetzen der Natur und den Geheimnissen des Menschen aus, dazu kommt eine kreative Energie, die jeden Gegenstand der Anschauung in ein Objekt verwandelt, das etwas jenseits von Metaphysik und Religion über das Wesen unserer Wirklichkeit aussagt. Gewiss, sein Anspruch, nichts weniger als den ihm zugänglichen Kosmos zu vermessen, zu beschreiben und zu erklären, ist anmaßend. Aber etwas anderes ist vom Typus des Universalgelehrten nicht zu erwarten. Tatsächlich blieb sein fünfbändiges Opus magnum „Kosmos“ (1845–1862) unvollendet.

Unruhegeist und Natur-Denker

Dass Humboldt nicht nur in der großen Dimension dachte, um all sein Wissen in einer monumentalen Gesamtschau zu bündeln und zu systematisieren, zeigt nun ein Band, der zahlreiche kleine Beiträge, zum Teil zum ersten Mal seit ihrem Erscheinen aus entlegenen Publikationen nachgedruckt, versammelt. Das Editionsprinzip ist so bestechend wie einfach, auf niemanden sonst anwendbar als auf den Unruhegeist Humboldt: siebzig Texte aus siebzig Schaffensjahren von siebzig verschiedenen Orten. Überzeugend an diesem Verfahren ist, dass sich die Entwicklung eines Natur-Denkers nachvollziehen lässt. Schon früh ist er ein glänzender Stilist, stets um eigene Gedankenarbeit bemüht – auch auf die Gefahr hin, dass er mit Zustimmung nicht rechnen darf. Erstaunlich die ungeheure Vielfalt. So unterschiedlich können die Themenbereiche gar nicht aussehen, dass er nicht doch stets mit einer eigenständigen, überraschenden Idee aufwartet. In Alexander von Humboldt verwirklicht sich das Prinzip eines aufgeklärten Vernunftmenschen. Die meisten Ausführungen unterwirft er strengen wissenschaftlichen Kriterien. Wie kommt das Wasser in den Basalt oder was lässt sich zur „physikalischen Erdbeschreibung“ beitragen, wenn der Fieberrindenbaum am Amazonas Gegenstand der Untersuchungen wird. Anderes liest sich wie eine Meldung aus den Vermischten Nachrichten, geeignet, wohligen Schrecken zu verbreiten, wenn Bericht erstattet wird, wie im 13. Jahrhundert in Ägypten die Praxis des Kannibalismus um sich griff. Als Humboldt als Wissenschaftler weltweit Beachtung erfuhr, suchte er Einfluss auf die Politik zu nehmen. Er prangerte den „Menschenconsum“ an, wie er im Sklavenhandel empörende Ausmaße annahm.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung