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Musik uad Politik in Florenz

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Es ist kein alltägliches Ereignis, wenn im schönen Florentiner „Teatro Comunale" an einem Abend da im Konzertsaal das Erscheinen des Prager gemischten Chores a cappella unter Leitung seines Gründers Pavel Kuhn von einem von allen hohen Rängen niedergehenden Platzregen bedruckter Papierfetzen unterbrochen wird. Zu vielen Tausenden schneiten die Fetzen über die Zuhörer nieder — wer sie von oberster Galerie auf Parkett und Logen niederregnen ließ, war nicht zu erkennen; man klaubte sie vom Fußboden und von den Sitzlehnen auf und las immer wieder die Botschaft: „NEIN den Kommunisten und Mördern! Es lebe die freie Tschechoslowakische Republik!“ Denn die Demonstration spielte sich an einem festlichen Abend ab, zu dem die gastliche Arnostadt eingeladen hatte, um die Gesänge des vorzüglichen Ensembles anzuhören. Zarte Musik, in kurzen Kompositionen von Schumann und Suk, von Brahms, Poulenc und anderen: alles eher denn revolutionäre Tondichter, dargeboten von einem vornehmen, wohlgekleideten Ensemble, in dem die weiblichen Kräfte in hocheleganten, schwarzen, bodenlangen Toiletten vertreten waren. Nichts dabei, um gegenrevo

lutionäre Leidenschaften reizen zu können. Es gab nach jeder Nummer intensiven Applaus, einen Applaus, der sich zum Schluß zu politisch gefärbter Begeisterung steigerte. Denn Italien, heute eines der politisch ruhigsten Länder der Welt, verurteilt die russische Haltung und deren Konsequenzen auf das entschiedenste; mit dem Ausdruck solcher Gesinnung wind in keinem Gesellschaftskreis gespart. Es begegnen sich keine zwei Leute, seien es Arbeiter oder Intellektuelle, die ihre Konversation nicht mit den Worten: „Was sagen Sie zu den Russen? Es ist unerhört!“ beginnen. Man reißt einander die Morgenblätter aus der Hand, um je eher zu erfahren, was täglich hinter jenen unheimlichen Grenzen geschieht. Radio und TV werden in den Familien von früh bis nachts belagert. Man sammelt Geld, um den tschechischen Flüchtlingen, die über die vorläufig noch sicheren und gastlichen Grenzen hereinsickern, zu helfen, und denkt dabei: „Wohl uns, daß es hier noch nicht soweit ist! Ob es, Gott behüte, noch einmal dazu kommen wird?“ Und über alledem lastet auch hier eine bedrückende Atmosphäre der Sorge.

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