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Was im Zug geschah

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Ein höchst unangenehmer, gleichzeitig aber auch höchst bemerkenswerter Streifen, der wieder einmal großartig herausarbeitet, daß sich der wahre Charakter des menschlichen Individuums meist . nur in Extremsituationen erweist, ist die amerikanische Außenseiterproduktion „Incident“:Mit einem Grüppchen von New Yorker Bürgern, das nachts müde, verärgert und desinteressiert in der U-Bahn nach Hause fährt, stoßen zwei Raufbolde zusammen und beginnen systematisch, sämtliche Insassen eines Waggons zu tyrannisieren und anzustänkern. — Mit voller Absicht hat der Regisseur dieses Streifens, Larry Peerce, breitesten Raum dafür verwendet, die Charaktere aller Beteiligten zu schildern. Das mag zunächst etwas weitschweifig scheinen, ist aber für die dramatische Entwicklung sehr wesentlich. Denn gerade dadurch wird sehr gut herausgearbeitet, wie sehr das einzelne, persönliche Schicksal parallel zu dem Verhalten in dieser Ausnahmesituation verläuft. Das eigentlich Erschreckende an diesem Film ist ja nicht so sehr die Bedrohung „friedlicher“ Bürger, sondern die Tatsache, daß hier ein Häufchen wild durcheinandergewürfelter Menschen plötzlich gezwungen wird, sein wahres Ich zu enthüllen und Farbe zu bekennen. Der Zwischenfall (Incident) im Zug wird somit zum Katalysator menschlicher Selbstpreisgabe.

Drehbuchautor Baehr und Regisseur Peerce haben den Knoten der Handlung sehr geschickt geschürzt: Nach einem behäbigen Anlauf kommt sehr bald Leben in die Handlung, die Ereignisse steigern sich zu einem wahren Inferno, das schließlich in einem ernüchternden Ausklang endet. — Da der Film genaugenommen aus einer Vielzahl geschickt miteinander verbundener Einzelepisoden besteht — Bindeglied auch hier wieder die Halbstarken — ist seine Wirkung im wesentlichen auch von der Darstellung abhängig: eine Reihe bei uns kaum bekannter Darsteller — an der Spitze Tony Musante und Martin Sheen als Rowdies — ermöglicht eine vollkommene Identifikation von Rolle und Schauspieler. — Mit dem Halbstarkenproblem setzt sich der Streifen so gut wie nicht auseinander — das haben Filme wie „Saat der Gewalt“ und „… denn sie wissen nicht, was sie tun" vor ihm sehr ausführlich getan. Es ist vielmehr ein Film, der — wie etwa „12 Uhr mittags“ — menschliches Verhalten in Stunden ungewöhnlicher Belastung analysiert und dabei die Abgründe menschlicher Vorurteile, Engstirnigkeit und — letztlich — Feigheit, schonungslos bloßlegt.

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