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Digital In Arbeit

Das virtuelle Programm

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52 Prozent der Wähler orientieren sich am Image des Spitzenkandidaten, nur mehr 43 Prozent werden als parteiorientierte Wähler eingestuft.

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52 Prozent der Wähler orientieren sich am Image des Spitzenkandidaten, nur mehr 43 Prozent werden als parteiorientierte Wähler eingestuft.

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Experten urteilen über den praktischen Stellenwert von Parteiprogrammen nüchtern und illusionslos: programmatische Grundsatzerklärungen gelten vielfach als aufwendige Denkübungen einer Elite parteinaher Experten, deren Arbeitsergebnisse auf Programm-Parteitagen ihren publizistischen Höhepunkt erleben. Delegierte, die das Dokument häufig nur in der Kurzform einer Presseunterlage querlesen, beschließen einstimmig ihre neue programmatische Identität. Journalisten „hängen” ihre Berichterstattung auf einige kontroverse beziehungsweise konfliktträchtige Punkte „auf. Nach wenigen Tagen publizistischer Beachtung liegen die Druckfassungen bereits in den Archiven. Außer den Grundsatzreferenten und parteieigenen Bildungseinrichtungen beschäftigen sich bestenfalls Universitätsseminare mit den Kernaussagen des Programms.

In einer informationsgesellschaftlichen Demokratie, in der Politik zunehmend auf erfolgreiche politische Kommunikation und politisches Handeln als kameragerechte Selbstdarstellung der Spitzenakteure definiert wird, sind de facto die Kandidaten das Programm. Im virtuellen Politikbetrieb, über den sich zwei Drittel der Wahlberechtigten primär via Medium Fernsehen informieren, geht es nicht mehr darum, programmatische Inhalte anzubieten, sondern durch massenmediale Image-Impulse diffuse Projektionsflächen für die Wünsche und Erwartungen der Wähler bereitzustellen.

Personalisierung der Politik heißt auch Abschied nehmen von kollektiven Identitäten, wie sie einst in Form von Grandsatzprogrammen festgeschrieben wurden. Nicht mehr

Parteigremien produzieren Programme, sondern die Wähler projizieren ihre Wünsche und Erwartungen in die Spitzenakteure einer Partei. Das neue Programm des Liberalen Forums - im Kern durchaus le-sens- und diskutierenswert - ist für die überwiegende Mehrheit der

Sympathisanten dieser Partei die massenmediale Persönlichkeit der Spitzenkandidatin. „Charismatische” Parteien sind daher keine Pro-grammparteien (mehr), sondern TV-und Medienparteien. Im Beich der politischen Wünsche, der affektgeladenen Beliebigkeit und der fluktuierenden Stimmungen — in der neuen, virtuellen politischen Realität -geht es daher weniger um grundsätzliche Ziele, sondern um diffuse Bedürfnisse, nicht mehr um die Definition von „Menschenbildern”, sondern um das Kandidaten-Image in der Zeit im Bild. 52 Prozent der Wähler orientieren sich mittlerweile primär am Image des Spitzenkandidaten, nur mehr 43 Prozent können als traditionelle, parteiorientierte Wähler klassifiziert werden. Aus Parteibindungen (kollektiven Identitäten) werden zunehmend Kandidatenbindungen, sprich hochgradig individualisierte und personalisierte Projektionen, Wünsche und Erwartungen. In emer Fernsehdemokratie will man nicht mehr Programme lesen, sondern das Programm sehen. Geht es immer weniger um Argumente, sondern um Aktionen, verkürzt sich der programmatische Horizont auf die redaktionellen Schlußzeiten der führenden Medien, erleben wir das „virtuelle” Programm: wir dürfen uns alles wünschen, jeden Widerspruch gestatten und das Drehbuch des politischen Dramas im übertragenen Sinn selbst schreiben.

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