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Der Mord im Kanzleramt

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Während im Bundeskanzleramt verschiedene Gruppen von Putschisten begannen, die Beamten des Hauses festzunehmen und in den Hof zu eskortieren, eilte Gendarmeriemajor Robert Wra-bel, Adjutant des Ministers Fey, ins Arbeitszimmer des Kanzlers und rief: „Sie sind schon da!" Karwinsky (Staatssekretär für das Sicherheitswesen) ergriff daraufhin Dollfuß und führte ihn

in den angrenzenden Säulensaal, da er ihn in einem eingebauten Garderobe- und Waschraum im dritten Stock verstecken wollte.

Am Ende des Säulensaales holte die beiden aber der Türhüter Eduard Hedvicek ein, nahm Dollfuß bei der Hand und lief mit ihm wieder durch sein Arbeitszimmer zurück in das auf der anderen Seite liegende Eckzimmer, da er — in genauer Ortskenntnis — den Kanzler durch die Präsidentschaftskanzlei über eine eiserne Wendeltreppe in das Staatsarchiv und von dort auf den Minoriten-platz bringen wollte. Im Eckzimmer traf eine Gruppe von Putschisten auf die Flüchtenden, und dort erhielt Dollfuß seine tödliche Verwundung

Dollfuß wurde von zwei Schüssen in die linke hintere Halsseite getroffen. Ein Geschoß durchschlug den siebenten Halswirbel und das Halsmark, zersplitterte zwei Rippen, öffnete die rechte Brusthöhle, verletzte dabei größere Blutgefäße und trat in der rechten Achselhöhle wieder aus dem Körper aus. Dieser Schuß verursachte eine Lähmung der unteren Körperhälfte und war unbedingt tödlich, wenngleich es einige Zeit dauerte, bis der Tod eintrat.

Nach dem Gutachten der Gerichtsmediziner Werkgartner und Szekely fand sich knapp unter der erwähnten Durchschußwunde eine zweite Einschußwunde. Das Geschoß war aber nicht tief in die Weichteile des Halses eingedrungen und offenbar von selbst wieder herausgefallen...

Otto Planetta (ein entlassener Bundesheerangehöriger), der sich selbst im Bundeskanzleramt einigen Putschisten und nach der Verhaftung auch der Polizei gegenüber als Täter bezeichnete, gab an, nur einen Schuß gegen den Kanzler abgegeben zu haben. Er schloß allerdings einen zweiten Schuß nicht aus.

Planetta konnte auch nicht mit Sicherheit die vorgelegte Waffe als jene identifizieren, die er benützt hatte. Da die Polizei nur etwa die Hälfte der Waffen der Putschisten sicherstellen konnte, ist es durchaus möglich, daß sich unter den verschwundenen Waffen auch die Mordwaffe befand ...

Aufgrund aller Angaben sind folgende drei Theorien über den Ablauf möglich: 1. Planetta gab beide Schüsse ab; 2. neben oder hinter Planetta gab ein anderer Täter einen Schuß ab; 3. auf den von der ersten Verwundung am Boden liegenden Kanzler gab nach einiger Zeit ein zweiter Täter einen Schuß ab. Zeitlich wäre die dritte Theorie möglich, da der Kanzler von knapp nach 13 Uhr bis 13.45 Uhr ohne Hilfe im Eckzimmer lag.

Schon in einem Protokoll aus dem Jahr 1936 findet sich eine Angabe, ein Mann mit gelbem Stern habe einen zweiten Schuß abgegeben, was durch eine erst vor kurzem erfolgte Aussage konkretisiert wurde, wonach einer der hingerichteten Polizisten der zweite Täter war. Diese Aussage beruht auf einem direkten Geständnis des zweiten Täters in der Turnhalle in der Marokkanerkaserne am Abend des 25. Juli und auf einem Augenzeugenbericht eines Putschisten.

Danach beugte sich der Täter über den am Boden liegenden Dollfuß (der auf dem Gesicht gelegen haben muß) und gab aus kurzer Entfernung einen Schuß ab. Ob dies als Gnadenschuß gedacht war oder persönlichen Rachemotiven entsprang, wird wohl kaum jemals geklärt werden können ...

Der Autor ist Dozent für Neuere Geschichte an der Universität Wien.

Auszug aus: DER PUTSCH. Die Nationalsozialisten 1934 in Osterreich. Von Gerhard Jagschitz. Styria-Verlag, Graz 1976.

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