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Ein Freund - ein Verwandter

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Die großen politischen Veränderungen in unseren Nachbarländern, das historische Ereignis, brachten mir den Gewinn eines Verwandten und den Verlust eines Freundes. Ich gewann einen Vetter in Mähren. Ich verlor einen Freund in Kroatien.

Der Vetter ist ein Nachkomme jener, die blieben, als ihre Brüder vor ungefähr vier Generationen wegzogen. So gering die Entfernung von Wien nach Brünn, Olmütz und Kremsier zu sein schien, für alles, was Wurzeln hatte oder schlagen wollte, war sie groß. In Wien überrollte das Leben die Erinnerungen an die alte Heimat. In Mähren bewahrte sich das Bild von der „Märchenstadt" bis in die Zeit ihrer Unerreichbarkeit und darüber hinaus, bis sich die Grenzbalken öffneten.. . Zu Füßen der Kaiserin Maria Theresia, zwischen ihren Beratern und Feldherrn, angesichts des Kunsthistorischen Museums, traf ich meinen Vetter, dessen Existenz mir kurz zuvor noch ebenso unbekannt war wie ihm die meine, zum ersten Mal. Die Freude war groß. Es war die Freude des Über-die-Grenzen-Gehens, zeiträumlich. Der eigene Raum weitete sich aus, auch in die Vergangenheit.

Ein Freund in Kroatien - er wurde erschossen. Wir sahen einander zum letzten Mal in einem Haus, das es nicht mehr gibt. In einem Dorf, das jetzt ein Trümmerfeld ist. Der Abschied nach wunderbaren Tagen - kein Lächeln, keine Heiterkeit, nur die Heftigkeit gesammelten Ernstes. Slawisches Pathos? Noch war Frieden. Aber vom Noch, das bedeutet, bald wird es anders sein, ahnten wir nichts. Die Trauer ist groß. Auch sie geht über die Grenzen, auch jene der Zeit, zurück zum Anfang meines Lebens. Krieg ist meine älteste Erinnerung. Mein Ausgangspunkt, von dem ich wegwuchs, mit jedem Jahrzehnt in eine größere Gewißheit hinein, in die Gewißheit europäischen Friedens. - „General, General, wag es nicht noch einmal..."

Botschaft des Abschiedskusses

Meines Vetters geläufiges Deutsch wiegt sich in slawischer Musikalität. Wir besuchen einander, erzählen unsere Leben, zeigen einander Sehenswürdigkeiten. Ein Land tut sich auf. Ein anderes verschließt sich in der Erinnerung. Die Freude und die Trauer gehen über die Grenzen der eigenen Betroffenheit in die eigentliche Betroffenheit. Wie eine zerbombte Stadt liegt die lang gewachsene Friedensgewißheit in mir. Meines Freundes Gewißheit war die der Freundschaft - und keine andere. Vielleicht war dies die Botschaft seines Abschiedskusses.

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