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Gedenken an Jean Amery

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„Ich wäre blöd, ich wäre vergreist und sklerotisch, würde ich nicht zur Kenntnis nehmen, daß die Geschichte mich widerlegt hat", sagte Jean Amery in einem langen Interview für das deutsche Fernsehen im Jahr 1978. Nun, jenen Jean Amery, der diese äußerst harte und klare Einsicht immerhin viele Jahre hindurch in mehreren Büchern -und unnachsichtig mit sich selbst - formulierte, kann man heute gar nicht hoch genug schätzen.

Denn dieser Jean Amery war nach 1945, nachdem er aus dem KZ Auschwitz befreit worden war, sehr bald hochfliegenden politischen Illusionen gefolgt: 1948 der algerischen Revolution gegen die französischen Kolonialisten. Er kämpfte als Publizist in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland für Frantz Fanon und dessen terroristische „Gegengewalt" - um einer humanen, sozialistischen, einer besseren Gesellschaft in Algerien willen. Und was folgte nach dem Rückzug der Franzosen? Die Situation wurde noch schlimmer.

Und Mitte der sechziger Jahre erlag Jean Amery dem nächsten politischen Romantizismus: mit den Studenten begeisterte er sich in Paris für die Revolution gegen eine sehr unvollkommene Demokratie, gegen Mißstände des Kapitalismus: „Ho-Ho-Ho-Tschi-Min, da habe ich damals mitgeschrien, und was ist herausgekommen? Was waren die Folgen der Gegengewalt? Mir ist klar geworden: der Kapitalismus erwies sich als reformbereit, und der Terror der Gegengewalt setzte sich selbst schwer ins Unrecht." Was geschah in Ostasien?

In Nordvietnam und in Kambodscha? „Kambodscha, das war wohl das Furchtbarste."

Auf die Frage des Fernseh-In-terviewers, was er denn von der „strukturellen Gewalt" halte, meinte Jean Amery, man müsse zwischen Gewalt und Macht unterscheiden: „Soll ich bei Verkehrslicht ,rot' nicht stehenbleiben, und übt etwa der Steuerbeamte gegen mich Gewalt aus?" Aber Terror, das sei Gewalt, und der „linke Intellektuelle", der Gewalt ausübe, auch wenn er sie als „Gegengewalt" bezeichne, hebe sich selbst auf: er sei dann weder Intellektueller mehr, noch links.

„Was ich damals sagte und schrieb", erklärte Jean Amery, „gilt nicht mehr, es war falsch, ich wäre blöd, ich wäre sklerotisch, würde ich das nicht erkennen." Das Interview schloß mit einer geradezu erschütternden Aufforderung zur Bescheidenheit und Toleranz: „Man muß Respekt vor dem anderen haben, das aber ist eine Sache der Erziehung, auf die zu achten ist, vor allem der Selbsterziehung. Respekt vor dem anderen."

Der Wiener Jean Amery, der sieben Jahre entsetzliche Konzentrationslager überlebt hatte und bis zu seinem Tod von eigener Hand in seiner kleinen Emigrantenwohnung in Brüssel wohnte, war oft zu Vorträgen, auch für Rundfunk und Fernsehen in Wien, und während seine Frau in Wien eine Wohnung für eine späte Rückkehr suchte, beendete Jean Amery sein Leben mit einer Überdosis Schlafmittel. Auf seinen Wunsch liegt er in Wien begraben. Er wäre eben achtzig Jahre alt geworden.

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