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Grass über Döblin

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Den „am wenigsten entdeckten” unter den „wenigen ganz großen deutschen Schriftstellern dieser Jahrzehnte” sah Ludwig (nicht zu verwechseln mit Herbert) Marcuse in Alfred Döblin. Jenem Döblin, zu dem den meisten nur „Berlin, Alexanderplatz” einfällt Sein einziger großer Erfolg. Aber Döblin hat noch andere,- ebenso bedeutende (mindestens!) Rotnane geschrieben, abgesehen von seinen Erzählungen. Nun sind seine wichtigsten Werke in einer schönen, siebenbändigen, leinengebundenen Jubiläums- Sonderausgabe wieder zu haben. Sie enthält „Die drei Sprünge des Wang- lun”, „Wallenstein”, „Berge,Meere und Giganten”, „Berlin - Alexanderplatz”, Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende” sowie „Erzählungen aus fünf Jahrzehnten” und „Autobiographische Schriften”. (Die zum Verständnis Döblins sehr wichtigen Theaterkritiken gibt es, im selben Verlag,

seit einiger Zeit unter dem schönen Titel „Ein Kerl muß eine Meinung haben” als Paperback.) Das Heranwachsen eines neuen Publikums, das auf der Suche nach seinen eigenen geistigen Wurzeln seine Bücherschränke füllt, bescherte vielen halbvergessenen Dichtem neue Gesamtausgaben. Hoffentlich wird es auch Döblin nicht nur kaufen, sondern auch lesen. Die Begegnung mit dem Werk des Berliner Armenarztes und Psychiaters Döblin (1878-1957) hat unter anderen auch Günter Grass beeinflußt, er bezeichnet Döblin, obwohl er ihn nicht kennengelernt hat, als seinen Lehrer. Hier ein Auszug aus Grass’ Vorwort „Eine Verführung, Döblin zu lesen”:

„Da liest jemand, der Emigrant Döblin, in der Nationalbibliothek Kierkegaard und beginnt, unaufhaltsam zuerst Christ, dann Katholik zu werden. Ein anderer liest, was weiß ich, die Bibel und wird Marxist. Als 14jähriger las ich ,Schuld und Sühne”, verstand nichts und verstand zuviel. Die üblichen Lesefrüchte? Wohl kaum. Mehr das Buch als Spätzünder: gelöst vom Autor, explodiert es im Kopf des Lesers; doch da wir annehmen können, daß Döblin immer den Zünder bereitgehalten hatte, um eines Tages, wie zufällig, auf der Stiche nach Atlanten und Reisebeschreibungen, und einsam, wie man nur in der Nationalbibliothek zu Paris einsam sein kann, auf den Zündstoff Kierkegaard zu stoßen, ist die oft über Jahrzehnte verzögerte Wirkung des Buches zumindest angedeutet. Denn wenig wissen wir von der Wirkung der Bücher. Noch, weniger weiß der Autor, wohin sein Wort fallen wird.

Hier der Mann, der praktisch und weltlich dem Volk aufs Maul schaut, der, besonders im Alexanderplatz”, die gesprochene Rede direkt und indirekt mit dem inneren Monolog konkurrieren läßt; dort der erfinderische Kopf eines Mannes, dessen Visionen und Utopien immer unterwegs sind, mystische Entrückung zu suchen. Wo ist der Autor? Eine Vexierbildfrage. Sollen wir ihn in den Urwäldern des Jesuitenstaates am Amazonas, sollen wir ihn auf dem Berliner Schlachthof oder hingeworfen vor einem Marienaltar suchen, dessen heidnischer Zuschnitt uns an Vaneska, die Königin-Mutter seines utopischen Troubadour-Reiches nach der Enteisung Grönlands erinnert?

Soviel ist gewiß: Döblin wußte, daß ein Buch mehr sein muß als der Autor, daß der Autor nur Mittel zum Zweck eines Buches ist, und daß ein Autor Verstecke pflegen muß, die er verläßt, um sein Manifest zu sprechen, die er aufsucht, um hinter dem Buch Zuflucht zu finden.

So beginnt Döblins Epilog: JEs liegt ein Haufen Bücher da - ,da” ist ein falscher Ausdruck, es muß heißen: er liegt vor, ist geschrieben innerhalb von fünf Jahrzehnten, aber nicht da.”

Nach frühexpressionistischen Erzählungen, die später in dem Band ,Die Ermordung einer Butterblume” gesammelt werden, veröffentlicht er 1912 seinen ersten Roman ,Die drei Sprünge des Wang-lun” und ist sogleich unmit telbar da, wenn auch ohne augenblicklichen Erfolg.

Wang-lun, der Führer der Schwachen und Wehrlosen, wird, indem er das Schwachsein zur Ideologie erheben will, schuldig. Die Greuel der Schwachen und Gammler der Mandschu-Zeit messen sich an den Greueln der Herrschenden; Wang-lun, der sanfte Berserker, scheitert und löscht sich aus. Doch so sehr diese These bester deutscher Kohlhaas- und Karl-Moor-Tradi- tion entspricht, neu, wenn auch nicht ohne ornamentale Bindungen an den Jugendstil, ist die Sprache, neu in diesem Roman und bestürzend revolutionär sind die Darstellungen der Massenszenen: Menschen, in Bewegung geraten, stürmen Berge, werden zum beweglichen Berg, die Elemente stürmen mit. Mit ,Die drei Sprünge des Wang- lun” gab uns Döblin den ersten futuristischen Roman.”

ALFRED DÖBLIN - Jubiläums- Sonderausgabe in sieben Bänden, Leinen, in bedrucktem Schuber, Walter- Verlag, Olten/Freiburg 1977, ca. 4600 Seiten, öS 1031,80.

Schema entwickelten Grundrisse, ist

Seilschaft, hat für eine kleine Minder-

von der Neuauflage, der Wiederver- heit gebaut, aber das gilt ebenso für einer demokratischen, sondern einer schenken, haben wir heute bestenfalls

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