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Eine deutsche Revolution

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Ein Wiedersehen mit dem Verfasser von Berlin, Alexanderplatz'. Uber zwei Jahrzehnte sind vergangen, seitdem jenes in einem unkonventionellen, aggressiven Stil geschriebene Buch mit seiner Unzahl von Personen, Szenen und Verwandlungen ein literarisches Ereignis ersten Ranges war. Ein Zeit-und Sittengmälde wurde enthüllt: Berlin, wie es lebte und atmete — unter den Linden und im letzten Hinterhof von Neuköln ... Auflage folgte damals auf Auflage. In kurzer Zeit war die Hunderttausendgrenze überschritten. Das ließ ist, wie gesagt, nicht viel länger als zwei Jahrzehnte her. Aber was liegt doch alles zwischen jenen Jahren und der Gegenwart. Tod, Zerstörung und Halbierung der Stadt des Alexanderplatzes, die .Schicksalsreise“ aber für Alfred Döblin. Sie führte den Emigranten, der als Jude und freier „Linker“ das nationalsozialistische Deutschland verlassen hatte, 1940 über die Landstraßen Frankreichs nach Lissabon, 6ie vereinigte ihn wieder mit seiner Frau und seinen Kindern. Sie führte hinüber über den Ozean, wo er in Kalifornien neben einem Jesuitenkloster ein Refugium fand. Und hier tat Alfred Döblin den entscheidenden Schritt, zu dem Franz Werfel sich bis zu seinem Tode nicht durchringen konnte. Er nahm mit seiner Familie die Taufe, er wurde Katholik. .Die Schicksalsreise“ — unter diesem Titel hat Döblin die Geschichte ßeiner Konversion festgehalten — war zu Ende, doch die Fahrt seines Lebens ging weiter — zurück nach Deutschland.

Alfred Döblin kehrte nicht ohne literarisches Gepäck nach Deutschland zurück. Dicke Mappen von Manuskripten füllten seine Koffer. Die bange Frage, die sich die besten Deutschen in den Jahren zwischen 1933 und 1945 wiederholt stellten, .Warum alle6 60 ge-

kommen war, warum alles so kommen mußte?“, hatte ihn auf der Suche nach seiner Antwort den Weg zurück gehen lassen — zu jener „deutschen Revolution“, die aus dem wilhelminischen Deutschland die Republik von Weimar gebar. Mit ihrem gewaltigen Aufbruch, in ihrem mächtigen, schier unaufhaltsamen Vorwärtsdrängen, und in dem folgenden jähen Zusammenbruch, war sie ein echtes Blatt aus dem Kapitel deutscher Tragik, dem noch so viele dicht beschriebenen Seiten folgen sollten. Döblin verleugnet die zündenden Ideen seiner Jugend nicht. Er spricht von der Revolution wie von einer alten, längst verschollenen Freundin. Mit viel Liebe und Wehmut, aber auch mit einem Schuß Überlegenheit. Er ist darüber hinweg. Revolutionl Das war für den literarisch ambi-tionierten Armenarzt vom Wedding nie Klassenkampf und Straßen6dilacht, sondern das Mitleid mit den Enterbten der Gesellschaft, die Sehnsucht nach einem menschenwürdigen Leben für alle. „Brüder zur Freiheit, zur Sonne...“

Den Menschen — nicht den Massen — gilt deshalb auch in dem vorliegenden dreibändigen „Erzählwerk“ Döblins besonderes Interesse. Wieder wird in rascher Folge auf- und abgeblendet, Schicksale huschen vorüber, Charakter werden deutlich und verschmelzen mit den anderen zum Bild einer bewegten Zeit, zum Spiegel de6 „Verratenen Volle e s.“ Verraten in seiner Hoffnung, eingelullt von geschäftigen und geschmeidigen Routiniers der politischen Klaviatur, wie von den lautstarken, aber tatenscheuen Berufsrevolutionären. Tag um Tag, Stunde für Stunde, begleitet Döblin, gleichsam mit der Uhr in der Hand, die Revolution. Er blickt dem vierschrötigen „Volksbeauftragten“ Friedrich Ebert über die Schulter, wie er den hoffnungslosen Versuch unternimmt, mit gesundem Hausverstand und Nackensteife die Republik zwischen Reaktion und Umsturz im Zickzackkurs durchzumanövrieren. Der Verfasser nimmt Einsicht in die Pläne des Großen Generalstabes in Kassel, wo man lange auf den .Einzug der Fronttruppen“ hofft, um das Blatt zurückzuwenden. Und dann erscheinen auch die Bilder von „Karl und Rosa“ — von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Die Porträts der beiden Spartakistenführer sind ohne Zweifel ein Höhepunkt der vorliegenden „Erzählwerke6“ — und nicht nur ein literarischer. Sie entsprechen ebensowenig den gutbürgerlichen Vorstellungen von „Bolschewikenhäuptlingen“, wie den Rie6enphotomontagen, die man heute wahrscheinlich in Ostdeutschland zur Schau stellt. Hier weiden Menschen vorgestellt, überdurchschnittliche Menschen — ausgespannt zwischen Oben und Unten. Denn Himmel und Hölle, Licht und Dunkel, Gott und Satan, sind für Alfred Döblin nach jener

„Schicksal6reise“ todernste Dinge. Ernster, wichtiger und entscheidender als Ebert, die Generale, Spartakus und die ganze Revolution zusammen!

Zwischen Oben und Unten lebt nicht nur die gesamte große Welt, zwischen Oben und Unten wirken und werken auch die vielen Millionen unauffälliger Menschen, die Döblin mit Meisterschaft aus der Masse zu lösen versteht. Niemand fehlt, keiner wird ausgelassen. Ein 6ehr buntscheckiger Reigen zieht

vorüber: kleine und große Betrüger, dunkle Existenzen aus dem Sumpf, oberflächliche Durchschnittsbürger, Landsknechte in feldgrau, Revoluzzer, harmlose Existenzen und unruhige Sucher, wie Friedrich Becker. Ein Mittelschullehrer und schwerverwundeter Offizier, den der Krieg nicht losläßt, der nach Schuld und Verantwortung fragt, der bohrt und bohrt — bi6 die Dämonen frei werden. Seltsame Schicksale hat er zu bestehen auf 6einer Wanderschaft. Faust 1918 ...

Alfred Döblins Trilogie: ein Querschnitt durch eine Zeit — ein Läng6chnitt durch eine Gesellschaft. Ein Drama auf 1650 Seiten und ein Meisterwerk der Feder.

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