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Ein Requiem zu Lebzeiten

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Nach einem Wort Ludwig Marcuses ist Alfred Döblin unter den wenigen ganz großen deutschen Schriftstellern dieser Jahrzehnte der am wehigsten entdeckte. Sein Vater stammte aus Posen, die Familie der Mutter aus Breslau. Seit 1888 lebte Döblin in Berlin, und zwar bis zu seiner Emigration. Dies war seine Welt: die Großstadt und ihre Bewohner, unter denen er als Krankenkassenarzt tätig war. Hier kam es zu Beginn der zwanziger Jahre zu pogromartigen Ausschreitungen, Vorspielen des Nazismus, der seine Klauen zeigte. Unmittelbar danach luden Vertreter des Berliner Zionismus Döblin zu Zusammenkünften ein und forderten ihn zu einer Reise nach Palästina auf. Aber ihm, der aus dem Judentum ausgetreten war, mag dieser Gedanke fremd gewesen sein. Doch über die Juden will er sich orientieren. Wo gibt es sie? Man sagt ihm: in Polen. So beschließt Döblin diese Reise, die von Ende September bis etwa 25. November des Jahres 1924 dauerte.

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Nach einem Wort Ludwig Marcuses ist Alfred Döblin unter den wenigen ganz großen deutschen Schriftstellern dieser Jahrzehnte der am wehigsten entdeckte. Sein Vater stammte aus Posen, die Familie der Mutter aus Breslau. Seit 1888 lebte Döblin in Berlin, und zwar bis zu seiner Emigration. Dies war seine Welt: die Großstadt und ihre Bewohner, unter denen er als Krankenkassenarzt tätig war. Hier kam es zu Beginn der zwanziger Jahre zu pogromartigen Ausschreitungen, Vorspielen des Nazismus, der seine Klauen zeigte. Unmittelbar danach luden Vertreter des Berliner Zionismus Döblin zu Zusammenkünften ein und forderten ihn zu einer Reise nach Palästina auf. Aber ihm, der aus dem Judentum ausgetreten war, mag dieser Gedanke fremd gewesen sein. Doch über die Juden will er sich orientieren. Wo gibt es sie? Man sagt ihm: in Polen. So beschließt Döblin diese Reise, die von Ende September bis etwa 25. November des Jahres 1924 dauerte.

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Als sozial empfindender Mensch will Döbl'im auch die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in dem neu formierten Staat kennenlernen. Polens Selbständigkeit und Souveränität sah Döblin mit Sympathie, obwohl er ein Gegner des Obrigkeitsstaates war, der ihm über-altet und als Instrument der Unterdrückung erscheint. Aber was er hier sieht, ist wenig ermutigend. Die wirtschaftliche Lage des Landes, die Spannungen zwischen den verschiedenen Nationalitäten, der Druck von außen zwingen ihn zu dem Resümee: „Polen muß sich fürchten.“ Döblin reist ganz allein, mit nur spärlichen Empfehlungen ausgerüstet, die Reisekosten hat wahrscheinlich der S.-Fischer-Verlag getragen, in dessen Zeitschrift „Die Neue Rundschau“ zunächst eine Folge von Artikeln und 1925 das Buch „Reise in Polen“ erscheint. Döblin reist ohne Reiseführer, Museen besucht er lustlos, Standbilder umgeht er, auf dem Land draußen ist er ratlos und verloren. Er will nicht „Land und Leute“ ken-nemlernen, sondern die Menschen in ihren Städten, bei ihrer Arbeit. Geschichtliches interessiert ihn nur in der Form von „Geschichten“. Vor xiaeM!W initerefeiereff-'fhn;i die Juden: die von Warschau und Witoo, von Lublin und Lemberg, Von Krakau, Zakopane und Lodz. Die Faszination ist groß, aber es überwiegt das Gefühl der Fremdheit. Döblin war Armut gewohnt, aber hier tritt sie ihm in erschreckender Gestalt entgegen, begleitet von Schmutz. Auch hat er Kommunikationsschwierigkeiten: Er kann weder Polnisch noch Jiddisch und vermag sich nur mit den Deutschsprechenden zu verständigen. Dem „Eindringling“ begegnet man oft mit Mißtrauen. Einmal notiert er: „Ich, weder zu den Aufklärern noch zu dieser Volksmasse gehörig — ein westlicher Passant.“

Tief beeindruckt ist er von dem religiösen Leben, den Fest- und Feier-tagsbräuchen, der Verehrung, welche die Wundermänner genießen, deren er einige besucht. Am Vorabend eines Feiertages sieht er im Judenviertel von Krakau: „Fenster neben Fenster ist hell; sie sitzen um den Vater am gedeckten Tisch bei Kerzen. Königlich sitzt er und singt.“ Der Vater im Kreis der Familie (der Döblins hatte die seine frühzeitig verlassen), im Einklang mit der Tradition und geborgen im Glauben der Väter: hier ist all das, was er als Kind und junger Mensch entbehren mußte...

Unter dem Kruzifix des Veit Stoss erkennt er, daß seine Abneigung gegen alles Nur-ästhetische, „Klassische“ christlich ist. Döblins religiöses Bewußtsein, das erst 20 Jahre später in dem Bekenntnisbuch „Schdcksals-reise“ zum Ausdruck kommt, ist sozial bestimmt, der soziale Protest ist religiös gefärbt. „Menschen in solchen Häusern“, notiert er einmal. „Und da wagt man von der Schönheit des Torbogens zu sprechen!“

Auf einen Fragebogen der Preußischen Akademie der Dichtkunst hatte Döblin bei „Konfession“ das Wort „keine“ geschrieben. Später fügte er hinzu: „Ich will nicht vergessen: Ich stamme von jüdischen Eltern.“ Das ist der persönliche Aspekt. Doch hat Döblins Reisebuch auch dokumentarische Bedeutung: Es ist eine letzte Bestandsaufnahme des polnischen Judentums, von dem 20 Jaihre später nichts mehr existiert. Es sind Momentaufnahmen von Opfern vor dem Auftritt der Mörder. Ein Requiem zu Lebzeiten.

REISE IN POLEN. Von Alfred Döblin. Gesamtausgabe in Einzelbänden. Walter-Verlag Ölten und Freiburg im Breisgau. 376 Seiten. DM24.—.

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