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ANKUNFT OHNE HEIMKEHR

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„Noch einmal kommt ein Mann nach Hause; noch einmal klingt das wichtigste Thema der deutschen Literatur unseres Jahrhunderts an, die Legende vom Fremden, der seine Heimat nicht mehr wiedererkennt...“ Mit diesen Worten charakterisiert Walter Jens den Ansatzpunkt des letzten großen Romans von Alfred Döblin: „Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende“. Darüber hinaus aber treffen diese Worte auch das Schicksal dessen, der diesen Roman geschrieben hat. Alfred Döblin war unter den ersten, die nach dem letzten Krieg wieder nach Deutschland kamen, in die Heimat, die sie verstoßen hatte. In seinem Gepäck befanden sich Kapitel eines Romans, den er in Kalifornien begonnen hatte: „Hamlet oder die lange Nacht nimmt ein Ende“. — Der Roman einer Heimkehr, der Rechenschaftsbericht einer Besinnung: „Der Grund des Kriegs, was ist er? Der Abgrund der Feigheit und Verlogenheit“. Aber keiner hatte Interesse für das Werk des Heimkehrenden, der doch einmal das einzige Großstadtepos geschrieben hatte, das die deutsche Literatur kennt: „Berlin Alexanderplatz“. Es war ein Schweizer Literaturhistoriker, Walter Muschg, der als erster laut das Wort für diesen Vergessenen erhob, als kein deutscher Verlag sich finden wollte, „Hamlet“ zu drucken: „Döblin stieß mit dieser Kunst in Deutschland auf taube Ohren. Beim Wiedersehen mit Berlin lachten die dortigen Schriftsteller den ,fromm gewordenen' Verfasser von .Berlin Alexanderplatz' aus, denn man spricht zwar seit Kriegsende viel von Risiko, Engagement und Existenz, aber man spricht nur davon. Der Heimatlose ging wieder nach Paris zurück. Da er für den „Hamlet“ zehn Jahre lang vergeblich einen westdeutschen Verlag gesucht hatte, ließ er ihn schließlich in Ost-Berlin erscheinen. Kurz darauf, im Sommer 1957, ist er gestorben, noch immer ein verfemter Mann. Die meisten seiner Bücher sind vergriffen, und liegen als herrenloses

Strandgut umher. Aber der Flüchtling Döblin ist zum Prüfstein geworden. Denn welchen Sinn kann die deutsche Literatur heute noch haben, wenn ein solches Lebenswerk nicht angenommen wird?“ —

Walter Muschgs Worte waren nicht vergeblich gesprochen. 1960 begann ein Schweizer Verlag, sich des Werkes von Alfred Döblin anzunehmen, und Walter Muschg, der inzwischen verstorbene Ordinarius für Germanistik in Basel, zeichnet mit den Söhnen des Dichters für die Herausgabe. Elf Bände liegen bisher vor, eine sinnvolle Auswahl aus dem großen, Überquelllenden Lebenswerk dieses „einsamen Mannes“, wie ihn Walter Jens im Hinblick auf die gängige deutsche Literatur genannt hat.

Döblin war Expressionist. Allein das schon stempelt ihn rum Abgestorbenen, trotz aller Renaissancebemühungen, mit denen man sich dieser Stilrichtung heute annimmt. Döblins Bücher lagen auf den Scheiterhaufen der braunen Barbarei. Döblin, der liberale Jude, der Armenarzt, der Proletarier, konvertierte in der Emigration zum Christentum. Alles Gründe, die das Vergessen dieses deutschen Dichters erklären. Döblin war — ist — eine abgestempelte literarische Marke; Döblin ist: „Berlin Alexanderplatz“. Dieser Roman, der einzige große Erfolg, verdankt diesen Erfolg einem Irrtum. „Berlin, das Berlin der Jahre vor 1930, seit einer Generation schon das literarische Gewissen und mehr noch der literarische Zensor des deutschsprachigen Schrifttums, glaubte sich wiederzuerkennen in der Schilderung der Stadt. Zu Recht! Und doch können wir erst heute erfassen, daß dieser Roman mehr war als die reifste Frucht des Berliner literarischen Futurismus. '016 gigantische Collage — „Ausschnitte aus Börsenberichten, amtlichen Publikationen, Text-und Annoncenseiten von Zeitungen, Geschäftsreklamen,

Plakatwänden, Firmenprospekten, Schlachthausstatistiken, Lokalnachrichten. Lexikonartikeln, Operettenschlagern, Gassenhauern und Soldatenliedern, Wetterberichten, Polizeirapporten, Gerichtsverhandlungen, behördlichen Formularen untermalen die Handlung bis in die intimsten Gespräche, ja bis in das Unterbewußtsein der Personen hinein“ (Walter Muschg) — diese minuziös gestaltete Plakatwelt, an der der Schicksalsweg des Franz Biberkopf vorüberläuft, des Sträflings, der zum geläuterten Verbrecher wird, ist Dublins erste christliche Dichtung. Der liberale Jude Döblin, der heidnische Hymniker, als der er bisher galt und für den er sich vielleicht sogar hielt, wurde bei der Niederschrift hellhörig für die neue Botschaft. Döblin, für den Schreiben Befreiung war, hat sich im Schreiben erkannt und erlöst.

Weiterer Markstein dieser Entwicklung ist ein Roman, in den Emigrationswirren entstanden: „Babylonische Wanderschaft“, der für das Werk, das bei Döblin für ein sinnhaft bestimmendes und letztlich bestimmtes Leben steht, charakteristisch genannt werden muß. Auch dieser Roman liegt in der neuen Ausgabe der „Ausgewählten Werke“ im Walter-Verlag vor; ursprünglich in einem Emigrantenverlag in Amsterdam erschienen, war er bisher kaum zugänglich. (Wir leben immer noch in der Hoffnung, die Wüstung der nationalsozialistischen Ära der verbrannten Literaturerde längst wieder neu aufgebaut zu haben. An einem Fall wie Döblin erst wird uns klar, daß dies keineswegs der Fall ist.) „Babylonische Wanderung“ ist die Geschichte einer Flucht —> deckt sich mit Döblins Schicksal, und läßt sich heute, in der Rückschau, als eine irre, wirre Flucht zu Gott erkennen. Ein weltlich-religiöses Capriccio, meisterhaft verspielt erzählt, wird im nachhinein zur zeitgemäßen Passion. „Ein großer Herr ist in zeitgemäße Schwierigkeiten geraten und muß auf seinen bisherigen Aufwand verzichten“, heißt es leitmotivisch bei Döblin. Dieser große Herr ist ein altbabylonischer, heidnisch ekstatischer Gott, und ist Döblin selber, richtend, rechtend und verteidigend sein Werk, das „babylonisch“ gespeist doch immer zum neuen Gott wies, und ist für den Dichter die Möglichkeit anwendbarer Geschichts- und Welterfahrung. Der Roman gibt in seiner ganzen faszinierenden Vielfalt und Vielschichtigkeit, sprachlich immer adäquat realisiert, in aller burlesken Verwandlung, die Döblin immer schon den Ästheten hat ebenso anziehend erscheinen lassen wie den Gegnern nur artiflziell, ein deutlich, nein überdeutlich, weil bewußt gemachtes Bild der Welt, wie sie der Emigrant Döblin vor der Bew^ußtwerdung der Allgegenwart Gottes zu erkennen vermochte. Die Geschichte hat keinen überzeugenden Abschluß. Erst im „Hamlet“ hat er die Geschichte seiner Konversion zu einem Ende gebracht. Zu diesem Zweck hat er die Weltliteratur bemüht. Sein letzter Roman ist ein überaus kunstvoll gestalteter Novellenzyklus, von einer „Vollendung, wie es ihn bisher in deutscher Sprache nicht gab“ (Walter Muschg). Ein Schriftsteller, aller Bindungen frei, was man Döblin auch literarisch seit „Berlin Alexanderplatz“ testiert hat, schrieb sich hier in diesem Roman seine Weltliteratur selber zu Ende. Döblin erzählt auf seine Weise, verformt die Lebensgeschichte eines kaum bekannten Troubadours genauso wie die des shakespeari-schen König Lear, um sie zu seinem Ende zu führen. Und dieses Ende, ein Lebens- und Schaffensende, fiel mit einem Kriegsende zusammen. Das macht das Werk Döblins, über seinen literarischen Wert und seine dichterische Gültigkeit, aber auch über seinen autobiographischen Modellfall hinaus, zum Zeugnis. „In der Tat“, schreibt Walter Jens, „dem Christen Döblin ist Wahrheit mehr als Richtigkeit; unbarmherzig und mitleidlos, von religiösem Pathos erfüllt, gewinnt sie noch einmal eine Bedeutung wie in der griechischen Tragödie.“

Aber Döblin ist kein Tragiker. Döblin ist Schriftsteller. Sein Leben, äußerlich gesehen sicherlich tragisch, hat sich erfüllt. Seine schriftstellerische Laufbahn, um einen billigen Begriff absichtlich zu wählen, hatte einen einzigen Höhepunkt, „Berlin Alexanderplatz“, kaum ein Vorher, kaum ein Nachher. Die deutsche Literaturgeschichte weniger als der allgemeine Maßstab der angeblich literarisch Interessierten und Wissenden hat Alfred Döblin auf einen Roman festgelegt. Und den Dichter darüber vergessen. Döblin ist heute ein Unbekannter, höchstens vielleicht ein durch einen einzigen Roman Etikettierter. Wäre Döblin ein Esoteriker, ein nur für Eingeweihte zu Lesender, ein im elfenbeinernen Turm sein Auslangen findender Schriftsteller, könnte eine Auswahl aus seinem Werk seine literarische Existenz rechtfertigen. Aber sein Werk hat alle Farbigkeit, alle Fabulierlust, alle Wortgewalt und Wortgewandtheit, um für sich selber zu sprechen, für sich einzunehmen; Döblin ist Lesestoff. Weder sein geistig-religiöses Zeugentum noch seine Bedeutung für die deutschsprachige Literatur der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts sollten uns dies vergessen machen. Kaum einer hat wie er einen Beginn gesetzt nach unser aller gemeinsamen langen Nacht. Kaum einer wurde so überhört. Zum letztenmal Walter Jens zu „Hamlet“ und zu Döblin selbst: „Und trotz allem: das neue Leben. Trotz allem, trotz Emigration, Verfolgung und Bitterkeit ... ein alter Mann kehrt zu seinem Anfang zurück, faßt alle Motive zusammen, schafft ein Lebenswerk von der Bedeutung der .Schlafwandler', des ,Mannes ohne Eigenschaften' und des ,Doktor Faustus'. Während die Altersgenossen meist als resignierende Epigonen enden, gelingt Alfred Döblin die große Synthese, ein Roman von erschütternder Klassizität.“

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